Archiv

Künstlerbücher

Die Sammlung

Künstlerbücher erzählen Geschichten, sind Manifeste, Archive oder politische Proklamationen. Sie brechen mit traditionellen Formen der Gestaltung, eröffnen neue Räume, sind programmatisch, narrativ, spielerisch oder auch abgründig. Durch die Konzeptkunst und Fluxus-Bewegung als offenes und vielseitiges Medium entdeckt, haben sich die Künstlerbücher seit den 1960er Jahren als eigenständige Kunstgattung etabliert.

Mit der Ausstellung »Künstlerbücher. Die Sammlung« präsentiert die Hamburger Kunsthalle erstmals eine Auswahl der bekanntesten Publikationen aus ihrer rund 1.700 Exponate umfassenden Sammlung. Deren Ausgangspunkt sind die Werke der Minimal Art und Konzeptkunst, in denen Künstler wie Sol LeWitt, Ed Ruscha und Lawrence Weiner in den 1960er und 1970er Jahren ihre seriellen und konzeptuellen Ideen in das Medium Buch umsetzten. Unter Einbeziehung vieler anderer Medien wie Musik, Poesie, Aktionen und Happening sowie durch spontane Improvisationen wurde in der Kunst der Fluxus-Bewegung das übliche Buchformat gesprengt. Vergleichbar einer ›Partitur‹, spielt hier das Buch als Vermittler eine bedeutende Rolle. Darüber hinaus ziehen anspruchslose und alltägliche Materialien in Form von Stempeldruck, Stanzungen, Fotokopien, Collagen und mechanischen Drucktechniken in die Sphäre des Buches ein. Es wird zum Experimentierfeld für neue Konzepte. Zugleich wird die Kunst enthierarchisiert und für jedermann erschwinglich. Wie kaum ein anderes künstlerisches Medium steht das Künstlerbuch daher auch für die Demokratisierung von Kunst.

Neben der Freiheit von kommerziellen Zwängen ist es nicht zuletzt die Idee des ‚alternativen Raums, die vor allem in den letzten Jahren junge Künstler_innen dazu veranlasst hat, sich diesem Medium zuzuwenden. Viele gründen eigene Verlage, publizieren ihre Werke in kleinen Auflagen und experimentieren mit neuen Formaten. Dabei tritt auch die Künstlerschallplatte als akustisches Medium wieder in den Vordergrund.

Künstlerbücher werden in der Bibliothek der Hamburger Kunsthalle in enger Anlehnung an die gesamte Sammlung des Museums erworben. Deshalb werden in der Ausstellung ergänzend zu den Buchpublikationen Kunstwerke aus der Galerie der Gegenwart und dem Kupferstichkabinett gezeigt, die in einem direkten Zusammenhang mit den Veröffentlichungen stehen. Dieter Roth, dem wichtigsten und sowohl eigensinnigsten als auch kompromisslosesten Künstlerbuch­-Protagonisten, sowie dem im letzten Jahr verstorbenen Hamburger Künstler Claus Böhmler sind jeweils eigene Räume gewidmet.

Gefördert von: Freunde der Kunsthalle e.V. und Förderstiftung der Hamburger Kunsthalle

Künstlerbücher in der Hamburger Kunsthalle

Das Kupferstichkabinett gehört mit seinen mehr als 130.000 Kunstwerken auf Papier (Zeichnungen, Druckgraphiken und Fotografien) wegen der durchgehend hohen Qualität zu den bedeutendsten graphischen Sammlungen in Europa. Den Grundstock legte das testamentarische Vermächtnis des Hamburger Kunsthändlers und Sammlers Georg Ernst Harzen (1790-1863), dessen an die 30.000 Zeichnungen und Druckgraphiken umfassende Kollektion seit 1869 in der Hamburger Kunsthalle als unveräußerliches Legat verwahrt wird. Zu Harzens Vermächtnis gehörten ebenso eine wertvolle Handschrift aus dem 14. Jahrhundert und Bücher, zum Teil mit Originalillustrationen. Im 1922 eröffneten, vom Hamburger Baudirektor Fritz Schumacher (1869-1947) entworfenen gemeinsamen Studiensaal können Sie sich die Bestände des Kupferstichkabinetts vorlegen lassen sowie die fast 200.000 Medieneinheiten der Bibliothek nutzen.

Neben dem Sammlungsbereich der illustrierten Bücher besitzt die Bibliothek ca. 1.700 Künstlerbücher. Seit 1977 wurde die Kollektion aufgebaut, die sich mit ihren Beständen stark an die in der Museumssammlung vertretenen Künstler_innen anlehnt. Ihr Schwerpunkt liegt bei Künstlerbüchern aus den 1960er bis 1980er Jahren, die aus der Konzeptkunst heraus entstanden sind. Es sind aber auch spätere Künstlerbücher vorhanden. Heute wird die Sammlung weiter ausgebaut, oft mittels Geschenk, wobei sie sich weiterhin an der Museumssammlung orientiert.

Die Künstlerbücher sind alle im Bibliothekskatalog recherchierbar. Alle Bände werden mit dem Schlagwort »Künstlerbuch« gekennzeichnet.

Künstler_innenliste

Eine Auswahl von Künstler_innen aus der Künstlerbuch-Sammlung der Bibliothek der Hamburger Kunsthalle, deren Werke in der Ausstellung gezeigt werden

Marina Abramovic / Ulay (*1946/*1943), Carl Andre (*1935), Ida Applebroog (*1929), John Baldessari (*1931),  Yto Barrada (*1971), Robert Barry (*1936), Thomas Bayrle (*1937), Joseph Beuys (1921-1986), Bernhard Johannes Blume (1921-2011), Claus Böhmler (1939-2017), Christian Boltanski (*1944), George Brecht (*1926), Thorsten Brinkmann (*1971), Günter Brus (*1938), Werner Büttner (*1954), James Lee Byars (1932-1977), Ernst Caramelle (*1952), Francisco Clemente (*1952), Hanne Darboven (1941-2006), Marcel van Eeden (*1965), Ian Hamilton Finlay (1925-2006), Hamish Fulton (*1946), Jochen Gerz (*1940), Gilbert & George (*1943 /*1942), Dick Higgins (1938-1998),  Almut Hilf (*1980), Roni Horn (*1955), Douglas Huebler (*1924), Jörg Immendorff (1945-2007), Ilja Kabakov (*1933), Allan Kaprow (1927-2006), On Kawara (1933-2014), Martin Kippenberger (1953-1997), Jürgen Klauke (*1943), Joseph Kosuth (*1945), Sol LeWitt (1928-2007),  Hanne Lippard (*1984), Richard Long (*1945), Materialverlag (seit 1972), George Maciunas (*1931),  Stefan Marx (*1979), George Maciunas (1931-1978), Mario Merz (1925-2003), Annette Messager (*1943), Robert Morris (*1931), Maurizio Nannucci (*1939), Bruce Nauman (*1941), Albert Oehlen (*1954), Eduardo Paolozzi (1924-2005), A. R. Penck (1939-2017), Sigmar Polke (1941-2010),  Richard Prince (* 1949), Tobias Rehberger (*1966), Gerhard Richter (*1932), Dieter Roth (1930-1998), Ed Ruscha (*1937), Michael Snow (*1929), Tomas Schmit (*1943), David Shrigley (*1968), Dayanita Singh (*1961),  S. M. S., Daniel Spoerri (*1930), Endre Tót (*1937), Timm Ulrichs (*1940), Ben Vautier (*1935), Tris Vonna-Michell (*1982), Andy Warhol (1928-1987), Lawrence Weiner (*1942),  Erik van der Weijde, ( Stefan Werwerka (*1932-2013), Emmet Williams (1925-2007), Christopher Wool (*1955), Tobias Zielony (*1973)

Künstlerbuchsammlungen im Norden

Sammlung Buchkunst im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg

Seit Bestehen des Museums gehört Buchkunst zu den Sammelgebieten des MKG. Die Gründung des Museums in den 1870er Jahren steht im Zusammenhang mit der Arts & Crafts Bewegung, die zugleich den Beginn der neueren Buchkunst-Bewegung markiert. So sind Werke der englischen Privatpressen, der Kelmscott Press von William Morris und anderer, besonders reich in der Sammlung vertreten, ebenso wie der darauf folgende europäische Jugendstil. Heutzutage umfasst die Sammlung Buchkunst einige tausend Werke und kann als eine Art Querschnittsammlung bezeichnet werden, die von der Inkunabel bis zum gegenwärtigen Künstlerbuch reicht und die vielfältigen Aspekte der Buchgestaltung und Buchkunst berücksichtigt: Gestaltung der Schrift und Typographie, Buchillustration, künstlerische meist handgefertigte Bucheinbände, moderne Pressendrucke, das moderne Maler- und Künstlerbuch.

Das moderne Künstlerbuch, wie es sich im 20. Jh. entwickelt hat, ist in seiner Vielgestaltigkeit in der Sammlung präsent, mit Werken bekannter Künstler wie Marcel Duchamp, Max Ernst, Oskar Kokoschka, Henri Matisse, Joan Miró et al., ebenso wie mit Künstlern jüngeren Datums. Die Sammlung umfasst somit exemplarisch ein breites Spektrum diverser Stilrichtungen und Konzeptionen. 

Der gesamte Bestand der Sammlung Buchkunst ist gemeinsam mit demjenigen der Museumsbibliothek im elektronischen Bibliothekskatalog des Gemeinsamen Bibliotheksverbundes (GBV) verzeichnet. Zusätzlich wird eine Präsentation in der Objektdatenbank Sammlung online des MKG angestrebt.

Text: Dr. Thomas Gilbhard

Literatur: Schulz, Gisela: Malerbücher und Verwandtes, Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg 1987 (Bilderhefte des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg 21)

Sammlung »Das schöne Buch« in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky

Über 5.000 besonders illustrierte Bücher, bibliophile Ausgaben, Künstler- und Malerbücher sowie Pressendrucke veranschaulichen in der seit der Nachkriegszeit bestehenden Sammlung die Geschichte des Schönen Buches vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis heute. Hamburger Buchkünstler wie etwa Johannes Schulz (Werkstatt Lerchenfeld), Richard von Sichowsky, Otto Rohse und Roswitha Quadflieg (Raamin-Presse) sind mit mehreren Beispielen ihrer Buckunst vertreten. Die Sammlung bewahrt außerdem die umfangreichste Kollektion der expressionistischen Farbholzschnittarbeiten des Künstlers Karl Lorenz (Turm-Presse). Recherchierbar sind die Sammlungsbestände über den beluga-Katalog.

Künstlerisch gestaltete Bücher finden erst seit etwa 60 Jahren den Weg in eine eigens dafür angelegte Sondersammlung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (im Folgenden: Staatsbibliothek). Die Sammlung »Schönes Buch« entstand in den Nachkriegsjahren und enthielt zunächst eine Auswahl besonders illustrierter Bücher, bibliophiler Ausgaben und Pressendrucke, die angehenden Bibliothekaren in ihrer Seminarbibliothek (daher noch heute mit der Sondersignatur ›Sem 19‹ gekennzeichnet) als Anschauungsmaterial im Bereich der künstlerischen Buchausstattung dienen sollten.

Die Geschichte des bebilderten Buches beginnt in der Sammlung mit mehreren Drucken des 18. Jahrhunderts, worunter v.a. illustrierte Ausgaben zu den klassischen Autoren der Antike zu finden sind. Auch die über 80 Titel des 19. Jahrhunderts führen den Betrachter vor allem die künstlerischen Illustrationstechniken, den Buchschmuck in Kupferstichen, Lithographien oder Radierungen vor Augen. Hier finden wir aber auch Zeugnisse der aufkommenden Buchkunstbewegung zum Ende des Jahrhunderts.  Im Zuge dieser Buchkunstbewegung entstanden auch in Deutschland viele Künstlergemeinschaften und Privatpressen, von denen zahlreiche Werke in unserer Sammlung zu finden sind. Auch in Hamburg bildeten sich Künstlergemeinschaften, die versuchten, die verschiedenen künstlerischen Elemente eines Buches zu einem Gesamtkunstwerk zusammenzuführen. Unter ihnen wirkte der wohl bedeutendste expressionistische Künstler Hamburgs, Karl Lorenz (1888-1961). 1924 gründete auch er seine Privatpresse auf dem Hof der norddeutschen Künstlerfamilie Wrage in Malente-Gremsmühlen, die Turm-Presse. Aus der Turmpresse bewahrt die Staatsbibliothek über 200 Werke auf. Diese sind Bestandteil der mehr als 1.300 Bände, die allein aus der Zeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Sammlung »Schönes Buch« stehen.

Nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg musste sich auch die Buchkunstbewegung erst wieder erholen. In Hamburg nahm die Landeskunstschule, die spätere Hochschule für bildende Künste, den Betrieb wieder auf. Sie konnte hervorragende Lehrkräfte im Bereich der Buchkunst akquirieren: Ignatz Wiemeler als Professor für Einbandkunst, dem 1952 Kurt Londenberg folgte, und Richard von Sichowsky, der bis 1974 als Professor für Typographie und Buchgestaltung an der Hochschule agierte. Gerade letzterer hat Generationen von Buchkünstlern beeinflusst und gilt als Inbegriff der »Hamburger Schule« der Typographie und Buchgestaltung. Von Sichowsky gründete 1951 die Grillen-Presse, aus der viele Bücher hervorgingen, die von der Stiftung Buchkunst zu den »Schönsten Büchern des Jahres« gekürt wurden. In den ersten Nachkriegsjahren tummelten sich auch Horst Janssen, Loriot und Otto Rohse als Studenten an der Landeskunstschule. Bücher der Grillen-Presse und Otto-Rohse-Presse, die 1962 entstand, finden sich als Hamburgensien naturgemäß in der Sammlung.

Buchkunst hat in Hamburg Tradition. Und dass sie bis heute in der Stadt lebt und floriert, zeigen die künstlerischen Arbeiten von Buchkünstlerinnen und Buchkünstlern wie Tita do Rego Silva, Svato Zapletal, Klaus Raasch, Caroline Saltzwedel (Hirundo Press), Clemens Tobias Lange (CTL-Presse) oder - leider nicht mehr in Hamburg ansässig - Roswitha Quadflieg (Raamin-Presse). Natürlich birgt die Sammlung neben Hamburger Künstlerbüchern auch Beispiele nationaler und internationaler Buchkunst. Dieser Teil der Sammlung wurde erheblich bereichert durch den Ankauf der Sammlung Bartkowiak im Jahr 2011, bestehend aus etwa 1.400 Künstlerbüchern und mehr als 1.000 Hängemappen Archivmaterial. Inzwischen beherbergt die Sammlung »Schönes Buch«  im Bereich der Sondersammlungen knapp 5.000 Stücke. Recherchierbar sind die Sammlungsbestände über den beluga-Katalog.

Text: Antje Theise

Texte zu Künstlerbüchern

Hier finden Sie sämtliche Texte aus »WissensWert«, dem Newsletter der Bibliothek der Hamburger Kunsthalle, die Künstlerbücher thematisieren

Aus WissensWert 02/2017: Till Verclas

»Wenn ich eine Wolke aus Ton modelliere so sieht sie nicht aus wie eine Wolke. Man kann gar keine Wolke aus Ton kneten. Ich kann aber ganz viele verschiedene Attribute von Wolken modellieren und dann entsteht so etwas wie die Idee einer Wolke.« (Verclas, Till: Schwarze Trüffel. Hamburg 2017, S.110)

Mit diesen Sätzen umschreibt Till Verclas (*1953) seine Herangehensweise an den Entstehungsprozess seiner Künstlerbücher. Die Erläuterung zeigt zugleich die Vielseitigkeit des Künstlers auf. Schon als Kind zeichnete er ununterbrochen. Als Grundlage dienten ihm die Vorsatzseiten und leeren Räume in den zahlreichen Büchern, die seine Mutter, eine Buchhändlerin, las. So war es nicht verwunderlich, dass der geborene Düsseldorfer Kunst studierte, und das von 1976-83 an der Hochschule für Bildende Künste am Lerchenfeld in Hamburg. Nach dem Studium widmete er sich ausgiebig seiner Kunst. Zeichnungen, Druckgraphiken und Skulpturen lagen dabei nebeneinander. Till Verclas legte sich nicht auf eine Gattung fest und suchte für seine Ideen und Aussagen stets die am besten passende Ausdrucksweise. Nebenbei arbeitete er von 1979-2010 als Kupferdrucker in seinem eigenen Atelier. Diese eher handwerkliche Tätigkeit ließ ihn die graphischen Arbeiten bedeutender Künstler (wie z. B. von Georg Baselitz) ausführen. Dabei lernte er viel über die Kunst dieser Meister und über die Technik des Druckens. Die Künstler_innen schätzten seine Perfektion und Anpassungsfähigkeit. Raum für die eigenen Ideen blieb Till Verclas in seinen eigenen Werken.

Die ersten Künstlerbücher entstanden eher zufällig. Als Bildhauer suchte er eine Form, seine Werke präsentieren zu können. Skulpturen klemmt man eben nicht mal schnell unter den Arm, um sie Galeristen oder potentiellen Käufern zeigen zu können. So bildet das erste Buch die Skulpturen von 1985-1989 ab – ein kleiner Katalog von 18 Seiten, der von der Galerie PPS F.C. Gundlach herausgegeben wurde. Till Verclas versucht, die Sperrigkeit des Materials Stahl, aus dem er seine Werke fertigt, im Buch wiederzugeben. Schon das Foto auf dem Einband presst die runde Form der Skulptur in die eckige des Buches. Materialität ist stets ein wichtiges Thema in Till Verlcas’ Werk. Für den Katalog wählte er einen festen Bristol-Karton, der von dicken Pappdeckeln zusammengehalten wird.

Auch das zweite Buch zeigt Skulpturen des Künstlers. Till Verlcas wählte hierfür zehn Werke aus, die er aus unterschiedlichen Perspektiven fotografieren ließ. Mal konzentriert sich das Foto ganz auf das einzelne Werk, mal sieht man es zusammen mit anderen Skulpturen im Atelier- oder Ausstellungsraum. Es ist der Versuch, die Komplexität der Dreidimensionalität einzufangen und im Buch wiederzugeben. »Zehn Skulpturen« wurde 1990 von Böer und Gutsche gedruckt. Wieder entschied sich Till Verclas für einen festen Bristol-Karton, doch dieses Mal sollten die 24 Seiten mit einer Ringbuchbindung zusammengefügt werden, um ein besseres Blättern zu unterstützen. Der Einband wurde aus einer dicken Graupappe gefertigt. Ein Papiergelenk dient dem Aufschlagen. Die Buchbindearbeiten erledigte die Binderei Berth Meyer aus Hamburg.

Diese beiden ersten Buchprojekte zeigten Till Verclas, das das Buch als ein eigenständiges Medium anzusehen ist. Die Auswahl der Materialien erzeugt ein bleibendes Leseerlebnis. Das Blättern lässt den Leser Zusammenhänge bilden. Die Werke treten in eine vom Leser gesteuerte Interaktion. Das Buch geht damit über die reine Informationsvermittlung hinaus. Es wird zum Künstlerbuch. So ist es nur eine logische Konsequenz, dass Till Verclas diese Erfahrungen in eine Edition münden ließ. 1992 gründete er »Un anno un libro« (pro Jahr ein Buch). Der Editionsname ist als Absichtserklärung zu verstehen, bildet aber kein starres Programm. 20 Künstlerbücher sind insgesamt bis heute erschienen. Sie werden alle in dem frisch herausgegebenen Werkverzeichnis »Schwarze Trüffel« beschrieben.

Viele Abbildungen zeigen den jeweiligen Charakter der unterschiedlichen Künstlerbücher sehr gut auf. Das Werkverzeichnis wurde vom Künstler selbst erstellt und erscheint ebenfalls in »Un anno un libro«. Die beschreibenden Texte sind kurz gehalten. Sie zeigen, was dem Künstler an jedem Buch wichtig ist. Ein Text von Susanne Padberg führt in das Gesamtwerk ein, ohne zuviele Details vorwegzunehmen. Am Ende des Werkverzeichnisses steht eine genauere Beschreibung wie ein Katalogeintrag mit Nennung des verwendeten Papiers, der Auflagenhöhe, dem Herausgeber, Format, Druck und Einband, dem Autor des eventuell enthaltenen Textes. Wie schon die Künstlerbücher ist auch das Werkverzeichnis gut durchdacht, auf das Wesentliche konzentriert und damit informativ und anregend zugleich.

Blick in die Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg während des Aufbaus © SUB Hamburg. Foto: M. Trapp, Hamburg

Es erscheint anlässlich einer retrospektiven Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Bis zum 26. Februar werden hier alle Bücher der Edition sowie einige Graphiken und Skulpturen des Künstlers gezeigt. Ein Besuch dieser liebevoll gemachten Ausstellung lohnt sich. Sie zeigt, wie unterschiedlich die einzelnen Künstlerbücher von Till Verclas sind und wie sie sich doch in ein stimmiges Gesamtwerk eingliedern.

Wer die Bücher selbst durchblättern möchte, kann dies in den Lesesälen der Staats- und Universitätsbibliothek und der Bibliothek im Museum für Kunst und Gewerbe tun. Auch die Hamburger Kunsthalle besitzt Künstlerbücher von Till Verclas. Neben den bereits beschriebenen Null-Nummern aus den Jahren 1989-1990 gehört dazu das erste Buch, das als »Un anna un libro« herausgegeben wurde. Wie die Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek zeigt es, wie alles ineinandergreift. Till Verclas macht mit ihm die Nähe von Zeichnung und Skulptur erlebbar. »Skulpturen und Zeichnungen« erschien 1993. Der Künstler wählte nun ganz andere Materialien. Für die Seiten entschied er sich für ein mattes Werkdruckpapier, das eine gewisse Ähnlichkeit zum Zeichenpapier besitzt. Erstmals enthält sein Buch auch einen Text – einen Auszug aus »Herbstsalon 1989, Dumont Kunsthalle Köln« von Kay Heymer, heute Kurator am Kunstpalast in Düsseldorf. Es gibt eine Vorzugsausgabe von 35 Exemplaren, der drei Radierungen beigelegt wurden. Die Bibliothek der Hamburger Kunsthalle besitzt die Normalausgabe. Für Bibliotheken eher ungeeignet ist die Perforierung der einzelnen 66 Seiten. Der private Leser kann dadurch sein Lieblingswerk heraustrennen oder verschiedene Werke des Künstlers miteinander vergleichen und in Beziehung setzen.

Das vierte Künstlerbuch von Till Verclas, das die Bibliothek der Hamburger Kunsthalle besitzt, erschien anlässlich einer Ausstellung von Wolfgang Schröder (*1943), ein befreundeter Maler. Till Verclas wählte für dieses Künstlerbuch die Form des Leporellos. Auf der einen Seite entfalten sich Reproduktionen der Gemälde Wolfgang Schröders. Sie zeigen verschnörkelte Formen in schwarzer Farbe auf gelbem Grund. Ihnen setzt Till Verclas eine eigene Fotomontage auf der anderen Leporelloseite entgegen, die finnische Bäume abbildet. 500 Exemplare wurden von Langebartels und Jürgens aus Hamburg im Offsetverfahren gedruckt. Die Vorzugsausgabe, von der es elf Exemplare gibt, besitzt zudem einen Schmuckschuber und je eine signierte und nummerierte Inkjetgraphik beider Künstler. Der Schuber wurde von der Buchbinderei Christian Zwang in Hamburg gefertigt, die mit vielen Buchkünstlerinnen zusammenarbeitet und auch zahlreiche andere Buchprojekte von Till Verclas begleitet hat. Welche das sind, können Sie in der Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek herausfinden.

Wer mehr lesen möchte: Verclas, Till: Schwarze Trüffel. Fünfundzwanzig Jahre Un Anno Un Libro. Hamburg 2017, Hamburger Kunsthalle, Bibliothek

Aus WissensWert 03/2017: Künstlerbücher

WWW-WissensWert: www.kuenstlerbuecher.com

Man kann sich über den Begriff des »Künstlerbuches« trefflich streiten. Wann entstanden die ersten Künstlerbücher? Zählen beispielsweise Pressendrucke oder Malerbücher zu den Künstlerbüchern oder sind es eigene Publikationsformen? Was ist noch ein Buch, und ab wann spricht man von einem Objekt? Die Fachwelt kennt viele unterschiedliche Definitionen. Eines ist klar: Künstlerbücher sind eigene Kunstwerke, die den Rahmen einer jeden Definition sprengen können. Im Laufe der Zeit hat sich die Beschäftigung der Künstler_innen mit dem Medium Buch gewandelt, so wie sich auch die Kunst insgesamt verändert hat.

Die Künstlerbuchszene ist eine internationale. Künstlerbücher erscheinen auf der ganzen Welt: im Selbstverlag der Künstler_innen oder in Kunstbuchverlagen. Es gibt auf Künstlerbücher spezialisierte Buchhandlungen in vielen Ländern. Einen wichtigen Part für die Erwerbung von Künstlerbüchern spielen auch die Messen. Vom 17.-19. März beispielsweise findet im Museum der Arbeit in Hamburg die »BuchDuckKunst« statt, eine Messe der Druckkunst, bei der Künstler ihre aktuellen Editionen präsentieren.

Künstlerbücher sind beliebt bei Sammler_innen. Häufig beginnt eine große Kunstsammlung mit dem Erwerb erster Künstlerbücher. Auch Museen und Bibliotheken, wie z. B. die Hamburger Kunsthalle, sammeln Künstlerbücher und stellen diese wiederum aus.

Wer will da noch einen Überblick behalten? Oder wo will man als Einsteiger_in beginnen? Das Portal www.kuenstlerbuecher.com oder www.artistsbooks.de setzt genau dort an – bei den Informationen. Es wird seit 1998 (!) von dem Hamburger Buchkünstler Clemens-Tobias Lange (*1960) in Zusammenarbeit mit Renzo Heinze betrieben. Selbstbewusst weist die Startseite den Eingang in den ersten Salon für Künstlerbücher im Netz aus. Das Menü leitet zu »Aktuell & Ausstellungen«, Verzeichnisse, den Punkt »Über Künstlerbücher«, eine Seitenübersicht und Links. Bei der Auflistung der Ausstellungen steht die Information deutlich im Vordergrund. Es beginnt mit einem Kalender zu aktuellen Veranstaltungen. In Tabellenform werden sie mit Titel, Datum, Ort und kurzen inhaltlichen Informationen beschrieben. Durch eine farbige Kennzeichnung des Kontinents (Europa weiß, Amerika rosa, Asien / Australien grün) in der Ortspalte kann man sich schnell einen Überblick verschaffen. Links führen zu den Webseiten des Organisators und zu weiteren Informationen über die Veranstaltungen. Besonders Wichtige werden mit Sternchen gekennzeichnet. Scrollt man auf der Seite herunter, so folgt ein Archiv. Ebenfalls in Tabellenform werden ältere Einträge zu Tagungen, Vorträgen, Gesprächsrunden oder Buchpräsentationen aufgelistet. Die nächste Tabelle widmet sich Auktionen, gefolgt von einer Auflistung ständiger Ausstellungen, die zum Thema passen könnten.

Die obere Menüzeile weist nun eine wesentlich größere Vielfalt auf als auf der Startseite. Wählt man den nächsten Punkt an, landet man bei ausgewählten Links, deren Informationen ebenfalls wieder in Tabellenform präsentiert werden. Die Ordnung dieser entspricht einer Wertung der Autoren. Nach den Links folgen Hinweise auf Messen in chronologischer Reihenfolge. Der farbige Hintergrund in der Titelspalte unterscheidet Künstlerbuchmessen,  antiquarische, traditionelle Buchmessen oder Messen für Kinderbücher. Unter »Editionen« findet man eine alphabetische Namensliste zu Künstlerbucheditionen. Am Schluss der Seite werden Verlagsnamen geordnet nach englischen Gattungsbegriffen (Art Magazines, Stores with editions etc.) in Auswahl präsentiert.

Eingangsseite des Portals. Quelle: www.kuenstlerbuecher.com oder www.artistsbooks.de

Der Punkt »Sammlungen« weist Künstlerbuchsammlungen in Bibliotheken, Museen und Galerien auf. Innerhalb dieser Kategorien sind die Institutionen nach Ländernamen geordnet aufgelistet. Die Reihenfolge der Ländernamen erfolgt nicht alphabetisch; sie spiegelt eher den Blickwinkel der Autoren wider. Die Hamburger Kunsthalle fehlt sowohl bei den Bibliotheken als auch bei den Museen. Das wird sich hoffentlich mit der geplanten Ausstellung im Dezember ändern. Das anschließende Verzeichnis von Händlern ist ebenfalls geographisch nach Kontinenten und Ländern sortiert. Die Bewertung der Institutionen geschieht wiederum durch eine Kennzeichnung mit Sternchen.

Die nächste Liste ist eine alphabetische Künstler_innenliste, die auch Künstler_innen enthält, die nur wenige Künstlerbücher gemacht haben. Sie verzeichnet ebenso, über welchen Vertrieb man die Bücher erwerben kann. Weitere Verzeichnisse, wie z.B. eine Bibliographie von Sekundärliteratur über Künstlerbücher oder Informationen zu Wettbewerben sind nur über die Seitenübersicht anzusteuern, auf die der letzte Menüpunkt verweist. Diese zeigt auch, dass das Portal manchmal ganz praktische Informationen für Künstler zu Basaren, Materiallieferanten, Jobs oder Workshops enthält.

Wer es auf Vollständigkeit anlegt, ist bei kuenstlerbuecher.com auf der falschen Seite. Dies ist bei der vielfältigen und quirligen Künstlerbuch-Szene aber auch gar nicht zu leisten. Manche Seiten sind aus bibliothekarischer Sicht ungewöhnlich strukturiert. Gewünscht hätte man sich auf jeder Seite einen Hinweis darauf, wann sie zuletzt aktualisiert wurde. Bei einigen Menüpunkten wird dies angezeigt. Insgesamt gesehen gibt es jedoch keine andere Webseite, die derartig viele Informationen und Links zum Thema Künstlerbuch anbietet. Sowohl Einsteiger wie auch Spezialisten werden hier fündig. Sowohl für Künstler_innen, Verleger_innen, Veranstalter_innen, Kunsthistoriker_innen, Bibliothekar_innen, Sammler_innen oder einfach nur Interessierte ist sei ein Gewinn.

Aus WissensWert 04/2017: Dokumente zu Performances

Die Exposition Internationale du Surréalisme, die von Januar bis Februar 1938 in der Galerie des Beaux-Arts in Paris stattfand, war die erste inszenierte Ausstellung. Ihr Katalog umfasst nur 7 Seiten. Gestaltet wurde er von den Künstlern rund um André Breton (1896-1966) wie ein Theaterzettel.

Die Nähe zum Theater ist die Charakteristik der Performance- oder Aktionskunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Künstler_innen wollten traditionelle Kunstformen aufbrechen. Dasselbe gilt auch für die Künstlerbücher. Was ist Kunst? Was ist Realität? Was ist Leben? Nach den Schrecken der NS-Herrschaft und der Brutalität des Krieges waren dies die vorherrschenden Fragen, die sich die Künstler_innen stellten. 1959 lud Alan Kaprow (1927-2006) erstmals zu einem »Happening« in die Reuben Gallery in New York ein. Im gleichen Jahr veranstaltete Nam June Paik (1932-2006) in Düsseldorf seine »Hommage an John Cage«. Beide Ereignisse markieren den Einzug neuer Methoden in die Bildende Kunst.

Dabei gab es Performances bereits in anderen Zusammenhängen. Als narratives Element stehen sie im Mittelpunkt jeder Theateraufführung. Doch die Aktionen der Bildenden Künstler_innen haben nichts Erzählendes. Mitunter besteht eine Ähnlichkeit zum Ritus, wie man ihn von religiösen Handlungen kennt. Einige Künstler_innen sahen sich in der Rolle des Schamanen. Anlehnungen an die lebenden Bilder, eine beliebte Tradition aus dem 19. Jahrhundert, lassen sich erkennen, wobei sich in der Aktionskunst alles auf den_die Künstler_in als integralem Bestandteil des Kunstwerks, als Zentrum konzentriert. Die Handlung, die Aktion, das Prozesshafte stehen also im Vordergrund. Und auch der Zuschauer, das Publikum ist ein wichtiges Element einer jeden Performance. Bei den ersten Aktionen nahm es direkt am Entstehungsprozess des Kunstwerks teil. Bisher hatten die Künstler_innen zurückgezogen in ihren Ateliers gearbeitet und das Publikum sah nur das Resultat ihrer Arbeit. Nun gingen die Künstler hinaus in die Galerien und auf die Straße. Ziel war es, ein größeres Publikum zu erreichen. Kunst sollte für alle da sein. In diesem Protest gegen den etablierten Kunstmarkt entstanden auch die ersten Künstlerbücher der 1960er Jahre.

Happening und Fluxus waren die Kunstrichtungen, in denen die meisten Aktionen stattfanden. Wolf Vostell (1932-1998) war ein wichtiger Vertreter dieser Bewegung. Am 26. März 1966 formulierte er sein »Happening-Manifest«, ebenfalls als Aktion.

Zahlreiche Anleitungen, Aktionstexte und Manifeste sind von Wolf Vostell erhalten. Sie wurden als lose Blätter, in Schnellheftern aufbewahrt, auf Matrizen oder Xerox-Geräten kopiert, oder als Publikationen veröffentlicht. Bereits 1959 gründete Wolf Vostell das Happening-Archiv in Berlin. Er sammelte alles, was die Kunst seiner Generation dokumentieren konnte. Seit 2006 befindet sich dieses Archiv im Museo Vostell Malpartida im spanischen Malpartida de Cáceres. Die Frage ist, was von einer Performance bleibt. Wie kann man eine Kunst überliefern, die die Form der Einmaligkeit wählte. Doch wie die frühe Archivgründung zeigt, mag es den Künstler_innen auch selbst um eine Dokumentation ihrer Arbeit gegangen sein.

Von einer Performance bleiben erst einmal die Gegenstände, die der Künstler_innen während der Aktion genutzt hat. Manche Künstler_innen haben Protokolle oder Dokumentationen in schriftlicher Form erstellt. In Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln berichten die Zuschauer von den Aktionen, oder es wurden Interviews mit den Künstler_innen abgedruckt. Einige Künstler beauftragten befreundete Fotografen, die Aktionen im Bild festzuhalten. Mitunter fanden die Fotos anschließend Eingang in eine Publikation, die die_der Künstler_in selbst zusammenstellte und herausgab – ein Künstlerbuch. Die Anfänge der Performancekunst fallen in die Anfänge der Videotechnik. Auch diese Technik wurde für das Festhalten von Performances genutzt. Es gab sogar Aktionen, die alleine vor der Kamera stattfanden (z. B. Valie Export (*1940): Remote … Remote…, 1973). Das Publikum erfuhr von einer Aktion nur über das unscharfe Medium des Films. Was Realität, was Fiktion ist, wurde absichtlich im Unklaren gelassen.

Immer wieder diskutieren Wissenschaftler_innen, welchen Stellenwert die hinterlassenen Zeugnisse von Aktionen haben. Handelt es sich dabei um Kunstwerke? Oder steht der dokumentarische Wert im Mittelpunkt? Eindeutig beantworten kann man diese Frage wohl nicht. Eines kann man jedenfalls beobachten: die Dokumentationen einzelner Aktionen wurden selbst zu wertvollen Sammelobjekten. Schließlich sind sie die letzten Relikte des Kunstwerks an sich. Durch eine Ausstellung im Museum erfahren sie eine Aufwertung, die das Dokument zum Kunstwerk werden lässt.

Auch in der Sammlung der Hamburger Kunsthalle befinden sich derartige Publikationen. Wer das Transparente Museum vom Café Liebermann her betritt, trifft als erstes auf ein Video der Aktion »Imponderabilia Bologna« von Marina Abramović (*1946) und Ulay (Frank Uwe Laysiepen, *1943) aus dem Jahr 1977. Das Paar hatte sich wie antike Statuen an den Eingang zu einer Ausstellung gestellt, und diesen durch ihre nackten Körper verengt. Die Besucher_innen mussten sich durch diese Situation der Enge und Körperlichkeit drängen. Ihre Gesichter sprechen Bände. Ungewollt wurden sie Teil der Performance und traten in direkten Kontakt zu den Künstlern. Bei den Kunstaktionen steht häufig eine Idee im Vordergrund. Anders als im Theater verzichten die bildenden Künstler_innen meist auf unterhaltende Elemente. Abramović und Ulay ging es immer um Beziehungen, welcher Art auch immer. Bei der beschriebenen Performance kam das Aushalten einer irritierenden, vielleicht sogar belastenden Situation hinzu. Von 1975-1988 arbeiteten die beiden Künstler_innen zusammen. In ihren Performances traten sie steht als gleichberechtigt auf, was die wirklich gleichberechtigte Stellung der Frau demonstrieren sollte. Zahlreiche Performances wurden dokumentiert. Die Bibliothek der Hamburger Kunsthalle besitzt 4 Künstlerbücher, die die performative Arbeit der Künstler_innen widerspiegeln.

Haben Abramović und Ulay den Zuschauer explizit in die Performance eingebunden, so hatte Joseph Beuys (1921-1986) zuvor genau das Gegenteil getan. Bei seiner Aktion am 26. November 1965 sperrte er das Publikum aus der Galerie Schmela in Düsseldorf aus. Durch ein Schaufenster blickte es in den Innenraum der Galerie, wo der Künstler einem toten Hasen Bilder erklärte. Marina Abramović, eine große Befürworterin von Reenactement, stellte die Aktion 2005 im Guggenheim Museum in New York noch einmal nach. Auch Christof Schlingensief (1960-2010) ließ sie in stark veränderter Form in zwei Filmen wiederaufleben. Über Beuys’ Aktion »Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt«, die als eines seiner Hauptwerke gilt, wurden viele Bücher und Artikel geschrieben. Es gibt zudem Fotos und Filmaufnahmen.

Eine weitere Aktion von Joseph Beuys wurde in Buchform festgehalten. Am Freitag, den 30. Oktober 1970 führte Beuys in der Eat Gallery am Burgplatz in Düsseldorf die Aktion »Freitagsobjekt. 1a gebratene Fischgräte« auf. Beuys hatte einige Tage zuvor 25 Heringe gekauft und diese gebraten, zum Teil eingelegt, andere gegessen und die Fischgräten aufbewahrt. In der Galerie fädelte er dann 25 Fischgräten auf und heftete sie mit dem Kopfteil nach unten an die Wand. Beuys selbst ließ sich unterhalb des Knies an jedes Hosenbein einen Trockenfisch nähen – links abwärts, rechts aufwärts gerichtet. Sein Gesicht bestrich sich der Künstler mit Asche und Holzkohle. Er hängte sich drei Kassettenrecorder um, die mit seinem Namen und dem Braunkreuz versehen waren. Er zerriss das Einwickelpapier der Fische und beschriftete es. Danach stand er drei Stunden lang auf einen Stock gestützt in eine Ecke des Raumes. Ziel der Aktion war es, Multiples zu erzeugen. Das Papier wurde zu deren Zertifikat.

Das Künstlerbuch ist in zwei Teile geteilt. Der erste besteht aus einem Interview von Joseph Beuys und Daniel Spoerri (*1930), dem Galerieinhaber. Das Gespräch fand einige Tage nach der Aktion statt. Es ist ein manchmal sachlich, mitunter ironisch geführter Dialog zwischen den beiden Fluxuskünstlern. Sie diskutieren über Essbarkeit, über die Symbole der Aktion und über die Entstehung des Multiples. Die Fotos von Bernd Jansen (*1945) rufen im zweiten Teil des Buches Beuys’ Aktion lebhaft wieder in Erinnerung. Das Künstlerbuch erschien in einer Auflage von 700 Exemplaren in der Edition Hundertmark. Noch bis zum 18. Juni 2017 wird ein Exemplar in der Ausstellung »Liebling Moyland« im Museum Schloss Moyland gezeigt. Die Bibliothek der Hamburger Kunsthalle besitzt ebenfalls ein Exemplar. Bis vor einiger Zeit stand es noch zwischen den Fachbüchern über den Künstler und wurde gar nicht als Künstlerbuch erkannt, ein Schicksal, das diese Gattung in vielen Bibliotheken trifft. Inzwischen hat sich das in der Hamburger Kunsthalle geändert und das Buch wurde der Sammlung der Künstlerbücher zugeordnet.

In einem Interview mit Jörg Schellmann (*1944) und Bernd Klüser (*1930) nannte Joseph Beuys die Editionen »eine Art Erinnerungsstütze«. »Jede Edition hat für mich den Charakter eines Kondenskerns, an dem sich Dinge ansetzen können. (…) Das ist wie eine Antenne, die irgendwo steht, mit der man in Verbindung bleibt.« Des Weiteren spricht er in dem Werkverzeichnis seiner Multiples von »physischen Vehikeln in Form von Editionen«, die seine Ideen zugänglich machen sollen.

Bei der beschriebenen Aktion von Joseph Beuys drängte sich das Publikum an einem einzigen Fenster, um der Performance folgen zu können. Ein anderer Künstler hätte seine Aktionen am liebsten direkt auf die Straße verlegt. Da dies jedoch mit Genehmigungen einherging, definierte er die Galerie als seine Straße und lud möglichst viele Menschen ein, an seiner Show teilzunehmen. Auch von Vito Acconi (*1940), jenem Künstler, besitzt die Bibliothek der Hamburger Kunsthalle zwei Künstlerbücher, die sich direkt auf seine Aktionen beziehen. Hierbei handelt es sich um kleine Publikationen, die nur wenige Seiten umfassen. Sie enthalten Fotos und Notizen rund um die Performances.

Tatsächlich auf die Straße verlegte ein anderer Künstler seine Aktionen. Der ungarische Künstler Endre Tót (*1937) organisierte eine  Demonstration, bei der die Teilnehmer Schilder, mit Nullen beschrieben, hochhielten. Die »Zero Demo« fand von 1991 bis 2015 an verschiedenen Orten statt, unter anderem auch in Hamburg statt (Film der ersten »Zero Demo« in Oxford, 1991). Die Null spielt ebenso in den Büchern des Künstlers eine Rolle. Diese beziehen sich allerdings nie auf die Aktionen des Künstlers, sondern stehen separat als vollständig selbstständige Werke im vielfältigen Gesamtoeuvre Tóts. Dokumentiert wurden die Performances durch Fotos und Videos.

So unterschiedlich wie die Performances sind auch die Zeugnisse, die von ihnen übrig bleiben und die Kunst weiterleben lassen. Die auf diese Weise entstandenen Bücher können wiederum Kunstobjekte sein, wenn sie von Künstler_innen als solche konzipiert wurden. Sie können Dokumente enthalten, die im Vorfeld der Aktion entstanden sind, die zur Aktion beigetragen haben oder die während der Aktion erstellt wurden. Manche Künstlerbücher entstehen während einer Aktion, um diese als eigenständiges experimentell-buchkünstlerisches Medium zu begleiten.

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Aus WissensWert 05/2017: Claus Böhmler

Was ist Kunst? Wann beginnt ein Objekt, ein Kunstwerk zu sein? Erst im Museum? Oder bereits im alltäglichen Leben? Diese Fragen stellten sich viele Künstler_innen am Ende der 1960er Jahre. Kein Wunder, dass in dieser Zeit zahlreiche Künstlerbücher entstanden. Auch bei diesem Medium kann man sich immer wieder die Frage stellen, ist das vorliegende Buch ein Künstlerbuch oder ein Buch über eine_n Künstler_in oder ein Künstler_innen-Katalog.

Claus Böhmler (1939-2017) ging den Dingen auf den Grund. Wulf Herzogenrath, ehemaliger Direktor des Kölnischen Kunstvereins, später der Kunsthalle Bremen, heute Mitglied im Stiftungsrat der Hamburger Kunsthalle, nannte Claus Böhmler deshalb einen »Grundlagenforscher«. Der Künstler hinterfragte alles, vor allem die so genannten Neuen Medien – Fotografie, Film, Video und Fernsehen. Als Querdenker wollte Böhmler untersuchen, wie diese Medien das Bewusstsein beeinflussen und welche Möglichkeiten sie bieten. Dabei geht er zunächst positiv an die Fragestellung heran. Eine Kritik entsteht bei den Betrachter_innen, durch einen spielerischen Umgang mit ironischem Unterton. Claus Böhmler veränderte eine Komponente, eine Perspektive, und es ergibt sich ein vollkommen neues Bild. Der Blick auf einen alltäglichen Gegenstand ist plötzlich ganz anders. Die_der Betrachter_in ist zunächst irritiert, versucht zu verstehen und gewinnt auf diese Weise eine neue Sicht auf die Dinge. »Denken im Sehen« nennt der Kunsthistoriker Jean-Christophe Ammann (1939-2015) diese Vorgehensweise im Katalog zur Ausstellung »Düsseldorfer Szene« 1969.

1969 erschien auch das erste Künstlerbuch von Claus Böhmler, in dem er sich einem seiner Lieblingsthemen widmete. Im Mittelpunkt steht die Figur des Pinocchio in der Form, wie sie für den Film der Walt Disney Studios entwickelt wurde. Claus Böhmler macht einer Position des gehenden, fröhlich lächelnden und einen Apfel in der Hand haltenden Pinocchios zu einem Stempel. Mit diesem produziert er die Vorlage für sein Künstlerbuch. Auf mehr als 70 nicht nummerierten Seiten zeigt er zahlreiche Variationen auf, die man mit diesem Stempel produzieren kann. Es entstehen Untersuchungen zu den Formen, aus denen sich Pinocchio zusammensetzt. Die Farben der Figur werden analysiert. Die Stempel werden auseinandergenommen und hintereinandergesetzt. Auf manchen Seiten überlagern sie sich. Auf anderen erscheint nur ein Teil der Figur auf dem Papier. »Ein lineares Programm« heißt es im Untertitel des Künstlerbuches. Immer wieder arbeitet Claus Böhmler mit dem seriellen Prinzip. Passend dazu wird das Buch vervielfältigt. Es erscheint im Verlag der Buchhandlung Walther König, bis heute einem der großen Produzenten von Künstlerbüchern. Walther König ist selbst ein ausgewiesener Kenner der Szene und besitzt eine der größten deutschen Sammlungen von Künstlerbüchern. »Pinocchio« von Claus Böhmler ist hochwertig verarbeitet. Es besitzt einen festen Leinen-Einband und ist gebunden. Das trifft nicht auf alle Künstlerbücher von Claus Böhmler zu.

Im gleichen Jahr, 1969, erschien ein weiteres Künstlerbuch ganz anderen Charakters. Claus Böhmler reproduziert sein altes Schulbuch des Faches Erdkunde in der ersten Klasse – so zumindest steht es auf dem Einband, der zugleich das Titelblatt darstellt. Und der Band sieht tatsächlich aus wie ein Schulheft. Aber hat man in der ersten Klasse bereits Erdkundeunterricht? Die Beschriftung irritiert. Der Künstler spielt mit dem bekannten Medium. Die Reproduktion gibt ihm die Möglichkeit, ein neues Werk zu schaffen – originale Reproduktionen, für die die Form des Künstlerbuches ein optimales Beispiel ist.

»Fach: Erdkunde …« erscheint in der Edition Hundertmark, die sich auf reproduzierbare und serielle Kunstwerke in Form von Multiples und Künstlerbüchern spezialisiert hat. Auch Claus Böhmlers Lehrer, Joseph Beuys (1921-1986), vertrieb einige Multiples über diesen Verlag.

Durch manuelle und automatische Fotokopie entstanden in den folgenden Jahren viele Künstlerbücher von Claus Böhmler. Diese Copy-Hefte boten ihm die Möglichkeit, seine Zeichnungen zu vervielfältigen. Der Künstler nannte die Zeichnung »das tätige Denken«. Diese Gattung bildet immer eine Idee ab. Claus Böhmler arbeitete mit so genannten Gesprächszeichnungen, die sowohl eine analytische als auch eine spontane Komponente haben. Die Spontaneität, die der musikalischen Improvisation gleicht, ist ihm ein wichtiges Element. Sie geht einher mit einer ungeheuren Phantasie, einem großen Spieltrieb und einem allumfassenden positiven, oft humorvollen Blick auf den behandelten Gegenstand.

1999 setzte Claus Böhmler ein solches Copy-Heft in einer Präsentation der Ausstellungsreihe »Standpunkte« ein. In dem von ihm gestalteten Raum im Altbau der Hamburger Kunsthalle, dort, wo sich heute die Kasse und das Besucherbüro befinden, baute Böhmler eine Aktion zur »Rettung« der Reproduktion des »Sous les peupliers« von Claude Monet (1840-1926) auf. Die Reproduktion hing dabei an der Wand. Der Künstler stand vor ihr und sah sich die Details des Bildes immer wieder durch ein Fernglas an. Auf einem Notenständer lag ein Plattencover, das er mit Pinsel und Farben bearbeitete. Von der Schallplatte ertönte Musik von Debussy und Ravel. Eine Dame mit Sonnenschirm sprach über Original und Reproduktion, über Übersetzungen von Bildern und Texten und von der Kunstvermittlung, die aus der_dem passiven Betrachter_in eine_n aktive_n nachvollziehende_n Museumsbesucher_in machen soll. Unterstützend dazu lagen auf einigen Tischen die Copy-Hefte des Künstlers. Die Besucher_innen sollten diese kreativ nutzen, sie anmalen, die Bilder ausmalen oder anderweitig verwenden. Der Ausstellungskatalog, der wie zu allen Präsentationen der Reihe »Standpunkte«, als kleines »Fensterheft« erscheint, besteht aus dem Zeichenheft Claus Böhmlers, eingerahmt von einem Text von Susanne Weiß, der die Unmöglichkeit von Kunstvermittlung, Übersetzung und Reproduktion erläutert. Am Schluss werden auch hier die »Leser_innen« aufgefordert, die Schaffung eines Kunstwerkes selbst zu vollziehen.

So wie Claus Böhmler jedes Medium hinterfragte, so ging er auch mit dem Sinn des Ausstellungskataloges um. Zu seiner ersten größeren Einzelausstellung, 1974 im Kölnischen Kunstverein, erschien denn auch anstelle eines Kataloges eine illustrierte Bibliographie, die der Künstler aus Bildern selbst zusammenkopierte. Es entstand »ein Buch mit Reproduktionen nach Reproduktionen von Fotos, von Originalzeichnungen mit Reproduktionen nach Zeichnungen«. (Vorwort)

Von 1974 bis 2005 wirkte Claus Böhmler als Professor an der Hochschule für Bildende Künste am Lerchenfeld. Im Februar 2017 ist er in Hamburg gestorben.

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Aus WissensWert 06/2017: Roni Horn

»To place« – Ein offenes Künstlerbuch-Projekt von Roni Horn

»I don’t want to read. I don’t want to write. I don’t want to do anything but be here. Doing something takes me away from being here. I want to make being here enough. Maybe it’s already enough.« (Horn, Roni: Making being here enough. In: Roni Horn, inner geography. Katalog der Ausstellung Baltimore 1994, S. 3)

Der Beginn des Textes »Making being here enough« aus dem Ausstellungskatalog »Inner geography« von Roni Horn (*1955) macht deutlich, worum es in den Künstlerbüchern der Serie »To place« geht. Die Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Wahrnehmung wird zum zentralen Motiv.

»Iceland« steht auf dem Cover eines jeden der elf Bücher, aus denen die Serie mittlerweile besteht. Seit 1990 hat Roni Horn in unregelmäßigen Abständen neue Bände hinzugefügt. Island hat eine vielfältige Bedeutung für die Künstlerin. 1975 kam die gebürtige New Yorkerin zum ersten Mal auf die Insel. Sie fand hier eine Art Sehnsuchtsort – ein Zentrum, wie Jules Verne es in seinem Buch der »Reise zum Mittelpunkt der Erde« beschreibt. Island unterliegt einem ständigen Wandel. Die ausbrechenden Geysire verändern die Insel permanent. Auch das Klima ist instabil. Das unterstützt Roni Horn bei der Suche nach immer neuen Identitäten. Wenn sie nach Island reist, ist sie alleine unterwegs. Das schärft den Blick auf sich selbst. Und so ist »To place« ein sehr intimes und persönliches Werk. Die Buchform unterstreicht dies.

Ein Buch ist ein ganz privates Format. Es zeigt eine eigene Individualität. Ein Kunstwerk in Buchform, ein Künstlerbuch also, ist nicht an einen Ort gekoppelt. Es kann sich über die gesamte Welt ausbreiten. Es sucht sich sein Publikum. Durch den Stellenwert, den ein Buch in der Gesellschaft hat, ist es kein einfaches Objekt. Es ist transportierbar, massentauglich und erschwinglich – ein demokratisches Medium, das den ständigen Wandel ermöglicht. Dieser äußert sich sowohl äußerlich als auch innerlich bei den Leser_innen. Ein Buch transportiert Informationen und verändert damit die Wahrnehmung der Betrachter_innen. Damit übersteigt ein Künstlerbuch die reine Ansammlung von Wissen. Das Buch ist ein analoges Medium. Seine Inhalte werden auf eine eigene Art und Weise erfahrbar.

Alle diese Punkte sind für Roni Horn wichtig. Sie haben die Künstlerin ganz bewusst die Entscheidung treffen lassen, sich in der Buchform ausdrücken zu wollen. Neben Installationen und Zeichnungen sind die Bücher eine dritte Ebene ihres Werkes.

»To place« artikuliert in jedem Band einen anderen Aspekt des Verbs in seinem Gesamttitel. Das Substantiv »Ort« spielt dabei ebenso eine Rolle. Jeder Band ist von seinem Inhalt her eigenständig. Dies drückt sich u. a. in einem eigenen Titel aus. Und dennoch gehören alle Bände zu dem Gesamtprojekt »To place«. Ganz bewusst wurde es als offenes Buchprojekt gestaltet. Der stetige Wandel spiegelt sich auch in der Form wider. Das verbindende Element ist Island. Jeder Band ist ein Dialog zwischen der Betrachterin Roni Horn und dem Blick auf die Insel. »To place« enthält Reproduktionen von Zeichnungen, Aquarellen, Fotos und Texten (Essays und Geschichten). Alles wurde von der Künstlerin konzipiert. Die Fotos wurden direkt für die Bücher gemacht. Für die meisten Bände wählte Roni Horn ein unbeschichtetes Papier aus. Das Drucken der Fotos auf einem solchen ist schwieriger als auf einem beschichteten Papier, denn es saugt die Farbe förmlich auf. Details, Kontraste und eine gewissen Klarheit gehen dabei verloren. Der Druck jedoch verdichtet die Atmosphäre auf den Fotos und darauf kommt es der Künstlerin an. Für die Darstellung ihrer Texte nahm sie den Bleisatz. Diese ursprüngliche Druckform singuliert die Buchstaben, die einzeln von Hand in den Satz eingefügt werden müssen. Für Roni Horn werden sie damit zur Zeichnung. »Typographical drawings« nennt sie die Textseiten in ihren Büchern, die ihre reine Aussageform überwinden und eine andere, bildliche Ebene erreichen. Analog dazu werden die Fotografien als »photographic drawings« bezeichnet. Roni Horn setzt sich damit über die traditionellen Definitionen einer Zeichnung hinweg. Jede Doppelseite in ihren Büchern wird zur Zeichnung, zu einem persönlichen Ausdruck, der mehr transportiert als die reine Information. Das gilt ebenso für ihre weiteren Künstlerbücher. Die Bibliothek der Hamburger Kunsthalle besitzt insgesamt über 20 verschiedene Exemplare. Die Serie »To place« wurde ihr in diesem Jahr großzügigerweise von der Künstlerin im Hinblick auf die kommende Ausstellung gestiftet.

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Aus WissensWert 07/2017: Manfred Holtfrerich

»Blätter« – Künstlerbücher von Manfred Holtfrerich

Ein Buch besteht aus Seiten. Sind diese nur einseitig bedruckt, werden sie als Blätter bezeichnet. Manfred Holtfrerichs Künstlerbücher bestehen aus ca. 20 Blättern. Was sieht man auf diesen? Blätter.

Der Künstler zeichnet jedes Jahr fünf bis zehn Blätter in einer offenen Serie. Sie entstehen als Aquarelle auf Büttenpapier – einzelne Werke, gerahmt in einem einfachen Holzrahmen. Für seine Bücher werden die Blätter eingescannt und in der Druckerei Alsterwerk in Hamburg digital gedruckt. Die Auflage der Bücher beträgt ca. 200 Stück. Die ersten 25 Exemplare sind nummeriert und signiert. Ein Digitaldruck auf gesondertem Papier wird beigelegt. Drei dieser Bücher sind seit 2001 erschienen.

Aber zurück zu den Blättern. Die niederländischen Künstler_innen der Barockzeit lenkten den Blick auf die Natur. Pflanzen- und Tierdarstellungen flossen in die Gemälde ein. Die Künstler_innen zeigten, dass die Natur auch ästhetisch sein kann. Im 18. Jahrhundert verstärkten sich die naturalistischen Darstellungen von Pflanzen. Künstler_innen gestalteten Bücher, schmückten Naturstudien aus, denn auch die empirische Erforschung der Natur nahm in der Zeit um 1800 stark zu. Dies schlug sich auch in der Kunst der Romantik wider. Philipp Otto Runge (1777-1810) fertigte Scherenschnitte von Pflanzen und auch andere Künstler_innen eigneten sich genaueste Details aus der Natur an. Durch die Auseinandersetzung mit dieser veränderte sich ebenso das Verständnis von Landschaft. Die Naturstudie wurde zum Ausgangspunkt für die Landschaftsmalerei. Natur wurde plötzlich als ästhetisch empfunden. Der Mikrokosmos der Pflanzenwelt stand jedoch auch für einen größeren inhaltlichen Zusammenhang, verwies auf eine naturwissenschaftliche, philosophische oder religiöse Deutung.

Manfred Holtfrerich wurde in seinem künstlerischen Schaffen von der Konzeptkunst und Minimal Art beeinflusst. Er befreit seine »Blätter« von jeglicher übergeordneter Orientierung. Zwar wurden die Pflanzen ganz exakt, im Maßstab 1:1, wiedergegeben, doch entbehren sie jeglicher Symbolkraft und idealtypischen Vertretung ihrer Art. Holtfrerich zeigt keine Massen. Ein Blatt pro Seite genügt ihm. Vorlage für seine Zeichnungen sind selbst gesammelte Herbstblätter. Bei der Auswahl geht er intuitiv vor. Die gesammelten Exemplare bewahrt er in einem Pressalbum mit Löschpapierseiten auf. Gezeichnet werden sie in der freien Natur oder an einem großen Fenster in seinem Hamburger Atelier.

Zunächst wählt der Künstler ein Blatt aus und positioniert es auf einem Blatt Papier. Er überträgt seine Umrisse vorsichtig mit einem Bleistift. Das Original liegt als Vorlage neben dem Papier. Danach beginnt die farbige Auszeichnung des Blattes mit Aquarellfarben. Immer wieder werden Farben übermalt, bis sich sowohl die äußere Form als auch die innere Gestaltung vollkommen naturalistisch auf dem Papier abzeichnet. Holtfrerich erreicht dabei einen derartigen Perfektionsgrad, dass sich mitunter sogar Insekten auf dem Bild niederlassen. Dennoch ist das Blatt kein Tromp-l’oeil. Dazu fehlt ihm die Vortäuschung einer Dreidimensionalität. Während des Entstehungsprozesses durchläuft das Kunstwerk eine Transformation von der reinen »Reproduktion zur Repräsentation«, wie Manfred Holtfrerich es selbst einmal in einem Interview nannte. Je präziser die Darstellung wird, umso sinnlicher wird sie auch. Holtfrerich spielt bei seiner Serie mit der Grenze zwischen Kopie und künstlerischer Darstellung, denn er verzichtet auf jegliche ästhetische Entscheidung und auf die eigene Handschrift. Das Blatt wird so abgebildet, wie die Natur es geschaffen hat, mit allen natürlichen oder kranken Deformationen, mit vorgefundenen Löchern und Fehlstellen.

Manfred Holtfrerich reduziert das Blatt auf seine ganz eigene Individualität. Die Zuordnung zur biologischen Familie spielt für ihn dabei überhaupt keine Rolle. So nummeriert er seine Blätter schlicht durch. »Blatt 1«, »Blatt 2«, etc. Hinzugefügt wird lediglich die Jahreszeit und das Jahr sowie der Ort, wann und wo die Zeichnung entstand. Der Fundort bleibt unbekannt, ist unwichtig. Es geht um das Kunstwerk. Durch die Wiederholung des Motivs zeigt der Künstler die Formenvielfalt der Natur auf. Die Zeichnung verstärkt und verändert unsere Wahrnehmung. Das Blatt, das ansonsten in Massen erlebt wird, z. B. im Herbst als lästiger Abfall auf den Straßen der Stadt, wird plötzlich ästhetisch hervorgehoben. Der Reichtum der Formen lässt den Betrachter staunen. Eine weitere Funktion oder Bedeutung haben die Blätter nicht. Sie sind weder emotional noch erzählerisch, sondern sachlich und konkret und vor allem eines: Kunstwerke.

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Aus WissensWert 08/2017: Erik van der Weijde

Künstlerbücher: Erik van der Weijde – This is not my book. Leipzig 2016

Der niederländische Künstler Erik van der Weijde hat seit 2003 mehr als 60 Bücher und Fotozines veröffentlicht. Das Buch ist das logische Format für seine künstlerischen Arbeiten. Van der Weijde studierte an der Rietveld Academy und an der Rijksakademie, beide in Amsterdam. Er ist kein Fotograf im herkömmlichen Sinne. Sein Werk steht in der Reihe der Kunst, die Aspekte des Alltagslebens in einen anderen Zusammenhang setzt. Ed Ruscha (*1937) und Hans Peter Feldmann (*1941) wären als eventuelle Vorbilder zu nennen, doch van der Weijde entwickelt seine eigene Sprache und seinen Stil. Das Büchermachen gehört immanent dazu. Fast alle seine Publikationen erscheinen im eigenen Verlag 4478zine. Auf diese Weise kann er ganz eigenständig die Ausgestaltung, die Materialität und die Ausführung der Publikationen bestimmen.

Homepage des Verlages 4478zine

Erik van der Weijde liebt die Serie. Sie setzt das Einzelwerk in einen Kontext, der wiederum eine Deutung ermöglicht. Auch deshalb ist das Buch das bevorzugte Medium für den Künstler. Seine Fotografien aus dem Alltagsleben, wie z. B. Bauten der Moderne, Bäume, Straßenlaternen, Prostituierte in Brasilien, wo er lebt und arbeitet, Aufnahmen seiner eigenen Familie, werden kontextualisiert. Und auch die Reihe der einzelnen Bücher ergeben einen Zusammenhang. Aus diesem Grund arbeitet van der Weijde gerne mit dem Prinzip der Serie.

Eine solche ergeben die Bücher, deren Titel mit »This is not …«, wie bei Ed Ruschas Publikationen, in großen Lettern auf dem Cover stehen. 2009 erschien »This is not my «, 2012 »This is not my wife«. Die Reihe widmet sich sehr privaten Themen. Durch den Titel distanziert sich van der Weijde zugleich davon und hebt den behandelten Gegenstand auf eine andere, sachlichere Ebene. 2016 gesellte sich die Publikation »This is not my book« in diese Serie. Ein Exemplar davon bildet zugleich eine der letzten Neuzugänge der Bibliothek der Hamburger Kunsthalle. Der Titel zeigt, wie wichtig das Medium dem Künstler ist.

Bei der Publikation handelt es sich um ein Künstlerbuch über Bücher und über die Bücher von Erik van der Weijde. Fotografien und Texte wechseln sich ab. Am Anfang steht ein Manifest, das in einer Buchbesprechung von Jan Wenzel in die Folge von Ulices Carrions Manifest »The new Art of Making Books« aus dem Jahr 1975 gesetzt wird. Erik van der Weijde nennt in seinem Text 15 Gründe für die Produktion von Büchern. Das Buch wird als ideale Möglichkeit der Reproduktion von Fotografien, als eigenes Objekt, ja letztendlich als Bauwerk beschrieben. Am Schluss müssten in die Kontextbildung alle Bücher einfließen, auch die nicht produzierten. Das ist die letzte Aussage des Manifests.

Die weiteren Aufsätze beschreiben die Gegenüberstellung von Text und Bild. Van der Weijde vergleicht den Künstler mit der Position einer Prostituierten, ein Motiv, das auch in seinem fotografischen Werk eine Rolle spielt. Im nächsten Beitrag geht es um die Kosten , die das Büchermachen mit sich bringt. Einen großen Gewinn kann man bei dieser Art von Publikationen nicht erzielen. Meistens handelt es sich um ein Verlustgeschäft. Zugleich ist dieser Aufsatz eine präzise Beschreibung der Bücher van der Weijdes, die weit über jede Bibliographie hinausgeht.

Es schließen sich vier Interviews an, die in Form von E-Mail-Korrespondenzen geführt wurden. Erik van der Weijde spricht mit Jan Wenzel über die Zusammensetzung des Buches und über die Bedeutung der Doppelseite in einem Buch. In einem Gespräch mit Anne König weitet er diese Beziehung auf andere Bücher aus. Einige Titel scheinen, miteinander zu korrespondieren – es gibt ein ständiges Hin und Her zwischen ihnen. Mit Jan Wenzel wiederum geht van der Weijde auf die Bücher Ed Ruschas ein. Im Gespräch werden Gemeinsamkeiten und Gegensätze deutlich. Das letzte Interview schließlich handelt von den nicht vollendeten Buchprojekten. »This is not my book« endet mit einem Catalogue Raisonné aller Bücher Erik van der Weijdes.

Zwischen den einzelnen Beiträgen stehen jeweils zwei Fotos, die ähnliche Motive zeigen. Es handelt sich dabei immer um eine Aufnahme eines Menschen und einem Bild einer Landschaft oder eines Tieres. Zwischen beiden Fotografien erfolgt das Blättern als verbindendes Element. Die Leser_innen müssen also aktiv werden, wollen sie den Zusammenhang herstellen. Das vorletzte Foto ist verschwommen. Man kann nicht erkennen, ob es sich um einen Menschen oder eine Landschaft handelt. Auf der Rückseite erfolgt der Rückzug in das Private. Mit dem Porträt seiner Frau und seines Sohnes schließt er zugleich an die beiden vorherigen Titel der Buchreihe an.

Wer mehr lesen möchte: Wenzel, Jan: I don’t like trees in particular, but I like photographs of trees. Über zwei Fotobücher von Erik van der Weijde. In: Camera Austria, 2012, S. 89-90

Aus WissensWert 09/2017: Außergewöhnliche Formate

Was unterscheidet ein Künstlerbuch von einem Buchobjekt? Sowohl das Künstlerbuch als auch das Buchobjekt sind ein eigenständiges Kunstwerk, doch das Buchobjekt wird der Gattung der Malerei, Plastik oder Graphik zugeordnet. Die_der Künstler_in bedient sich der herkömmlichen Buchform, verändert, verfremdet oder zerstört sie. Ein Buchobjekt ist deshalb unlesbar. Es gibt viele Beispiele für Buchobjekte. In der Sammlung der Hamburger Kunsthalle befindet sich das Werk »Kohlezeichnung (Buchobjekt 220 Seiten)« von dem Hamburger Bildhauer Horst Hellinger (1946-1999) aus dem Jahr 1985. Wie ein Krater frisst sich ein Brandloch in das Buch hinein, das von außen ganz normal aussieht. Auf den Seiten befinden sich jedoch keine Informationen. Sie bleiben weiß. Allein das Feuer hat sich im Buch festgesetzt und seine Spuren hinterlassen. Für Bibliotheken sind Aschebücher eigentlich das traurige Überbleibsel einer großen Katastrophe. Nach dem Brand der Herzogin Anna Amalie Bibliothek in Weimar im Jahr 2004 bleiben der Bibliothek bis heute viele Aschebücher, die aufwändig restauriert werden müssen, will man die enthaltenen Informationen retten. Brandbücher mahnen ebenso an die schreckliche Bücherverbrennung der Nationalsozialisten, die mit dem Feuer auch versuchten, den Geist der Autor_innen auszulöschen. Auf eine ganz andere Art und Weise erinnert der »Parthenon of Books« der argentinischen Künstlerin Marta Minujín (*1943) auf der documenta 14 in Kassel an diesen Tiefpunkt in der deutschen Geschichte und an den Zweiten Weltkrieg, während dessen Kassel eine Bibliothek von ca. 350.000 Büchern verlor, die sich im Fridericianum befand. Exemplare verbotener Titel, die den Minujíns Tempel bilden, zeigen, dass es die Machthaber glücklicherweise nicht geschafft haben, die Gedanken und Werke der Autoren für immer zu vernichten.

Die Bücher, aus denen dieses Kunstwerk besteht, kann man als herkömmliche Bücher bezeichnen. Was aber bedeutet diese Formulierung eigentlich? Wie sieht ein Buch typischerweise aus? Blickt man in seine lange Geschichte, so entdeckt man viele unterschiedliche Formate, mit deren Hilfe die Schrift überliefert wurde. Die Griechen und Römer schrieben beispielsweise auf Holz-, Wachs- oder Elfenbeintäfelchen, die zusammengebunden wurden und wie ein Buch zu lesen waren. In Asien findet man bis heute beschriebene Palmblätter, die mit Holzdeckeln versehen zu Büchern zusammengefasst werden.

Aus Sumatra kennt man Faltbücher aus Baumrindenbast. In Europa setzte sich im ersten Jahrhundert das Pergament als Beschreibstoff durch, dem das Papier folgte. Im Mittelalter entwickelt sich damit das Format, das wir heute als herkömmliche Buchform bezeichnen. Doch auch dabei kann man zahlreiche Varianten entdecken, denkt man an Beutelbücher, Miniaturenbücher, an moderne Pop-Up-Bücher oder Loseblattsammlungen. Sie alle zeigen, wie vielfältig das Buch an sich schon ist.

Die Künstler_innen, die sich ab den 1960er Jahren der Buchform angenommen haben, spielen mit diesen Varianten und stellen sie in Frage. So findet man im Bereich der Künstlerbücher eine große Menge zunächst ungewöhnlicher Buchformate, die auf den ersten Blick gar nicht an ein Buch erinnern. Am wenigsten auffällig ist da noch das Leporello, das zahlreiche Künstler_innen für ihre Künstlerbücher nutzten. Aus der Sammlung der Bibliothek der Hamburger Kunsthalle sei hier ein Buch des italienischen Künstlers Maurizio Nannucci (*1939) vorgestellt, das sich dieser Form bedient. »Sessanta verdi naturali« zeigt ausschließlich Fotografien von Grünpflanzen. Ein Buch voller Blätter, das man aber gar nicht wirklich blättern kann. Nannuccis Interesse an den Pflanzen gilt deren Farbe. Hat man das Leporello in Gänze aufgeschlagen, erkennt man die Unmenge von Grüntönen, die die Natur bietet. Oft sind es nur kleine Nuancen, die sich voneinander unterscheiden. Die deutsche Sprache kennt nicht für alle Variationen eigene Bezeichnungen. So steht der Begriff »grün« für ein ganzes Konglomerat von Tönen, die der Künstler in dem 1977 erschienenen Farbkatalog sichtbar macht.

Anlässlich der Ausstellung in Baden-Baden im Jahr 1986 erschien ein Künstlerbuch von Gunter Demnig (*1947). Der Künstler wurde durch die Stolpersteine bekannt. Zum Gedenken ehemaliger jüdischer Mitbewohner_innen, die dem Holocaust zum Opfer fielen, werden kleine goldene Pflastersteine mit ihren Namen und Lebensdaten in die Gehwege deutscher Städte eingelassenen. Demnig wählte für seinen Ausstellungskatalog eine Schriftrolle. Im Judentum werden die Texte der Tora, der hebräischen Bibel, in Rollenform aufbewahrt. Demnigs Gesetzesrolle enthält die Grundrechte der Bundesrepublik Deutschland, die im Grundgesetz verankert sind. Doch will man die Texte lesen, findet man nur Nullen und Einsen auf dem Papier. Der Künstler codierte die Grundrechte nach dem ASCII-Code, übertrug diesen mittels Schlagzahlen auf eine Bleirolle, von der mit Hilfe der Technik der Frottage ein mehrere Meter langes Papier gedruckt wurde, das nun aufgerollt das Künstlerbuch darstellt. Aufbewahrt wird diese Rolle in einer Kartonschachtel, die zum Kunstwerk gehört.

Auch Schachteln, Boxen oder Koffer sind keine ungewöhnliche Form für ein Künstlerbuch. Seit Marcel Duchamp (1887-1968) 1941 mit seinem Werk »Boîte-en-valise«, den Koffer als mobile Kunstsammlung präsentierte, experimentierten Künstler_innen immer wieder mit diesem Format. Gerade die Fluxuskünstler_innen, die den Umgang mit der Kunst spielerisch auffassten, schufen viele Werke in Schachteln, Boxen oder Koffern. 1965 bat George Maciunas (1931-1978) verschiedene Künstler_innenkollegen, ihm Werke für eine »Fluxyearbox« zuzusenden. Diese Kiste, die Anfang 1968 herauskam, enthielt diverse Objekte wie Hefte, Blättchen oder Kärtchen.

Noch einen Schritt weiter ging die Zeitschrift »S. M. S.« (Shit must stop), die in sechs Ausgaben im Jahr 1968 erschien. In einem Umschlag erhielt der Abonnenent wiederum einen Umschlag mit unterschiedlichsten Werken, die sowohl alle Medien (vom Zettel bis zur Musikkassette) als auch diverse Materialien (vom Papier bis zum Plastik) umfassten. Die Beiträge bekannter und unbekannter Künstler_innen unterschiedlicher Kunstrichtungen, wie z. B. Roy Liechtenstein (1923-1997), Claes Oldenburg (*1929) oder Dieter Roth (1930-1998). Der Herausgeber William Copley (1919-1996) wollte den Künstler_innen kein Format vorschreiben. Auf diese Weise wurde die Zeitschrift zum besten Beispiel dafür, wie schwer es ist, einzelne Gattungen auseinander zu halten. Bücher, Zeitschriften und Objekte hatten eines gemeinsam – sie wurden zu Kunstwerken.

Wie sehr die Grenzen zwischen den Gattungen verwischen können, zeigt ein Künstlerbuch aus dem Jahr 2013. Es handelt sich um die Abschlussarbeit von Marianne Nagel, die bei Sabine Golde, in der Klasse »Buchkunst« im Fachbereich Kunst an der Burg Giebichenstein in Halle studierte. Auch bei diesem Buch sieht der Betrachter zunächst eine kleine Box. Auf ihr steht in großen Lettern der Titel des Werks: »OVO«. Klappt man den Deckel nach links auf, sieht man ein Ei. Dieses wurde von der Künstlerin aus einem langen schmalen Fälzelstreifen geformt.

Der mit einer Schreibmaschine mühsam beschriftete Streifen enthält den Text des Künstlerbuches. Marianne Nagel spricht den Leser direkt an, wahrt aber durch die gewählte Höflichkeitsform eine gewisse Distanz und Achtung. Die Leser_innen sollen nicht attackiert, sondern zum Denken angeregt werden. »Wissen Sie, wie alles begann?« lautet die erste Frage, die zugleich auf das unlösbare »Henne-Ei-Problem« verweist. Drei anschließende Punkte, die zwischen allen Fragen stehen, symbolisieren die Antwort der Leser_innen. »Was denken Sie unter einem Sternenhimmel?« lautet eine andere Fragestellung. Sie macht deutlich, wie einfach die offen gestellten Fragen sind, wie sehr sie aber doch grundsätzliche, existenzielle Gedanken anregen können. Auf diese Weise liest man weiter und weiter und schält dabei das Ei. Hat man das Künstlerbuch beendet, bleibt ein langer Papierstreifen übrig – das eigentliche Kunstwerk ist zerstört – und alle Fragen beantwortet? Das muss jede_r Leser_in selbst entscheiden.

Die vorgestellten Beispiele zeigen, wie stark die Künstler_innen mit dem Buchformat experimentieren, es in Frage und auf den Kopf stellen und dabei weit über die Funktionen hinausgehen, die Bücher üblicherweise besitzen.

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Aus WissensWert 09/2017: Was ist ein Buch?

In den Künstlerbüchern werden die Funktion und die Form des Mediums in Frage gestellt. Da erhebt sich doch erst einmal die Frage, was ein Buch überhaupt ist. Wie würden Sie das Medium beschreiben? Was ist charakteristisch? Hat es eine bestimmte Form, ein besonderes Aussehen? Ist die »Bedienung« immer gleich? Oder hängt die Definition vom Inhalt ab?

Was sagen die Lexika? Der Duden bietet gleich mehrere Bedeutungen des Wortes »Buch« an:

»1. a. größeres, gebundenes Druckwerk, Band 

b. in Buchform veröffentlichter literarischer wissenschaftlicher o.ä. Text

c. (veraltend) Teil eines gegliederten [literarischen] Werkes d. Kurzform für: Drehbuch

2. aus gebundenen, gehefteten o.ä. Seiten bestehender, mit einem festen Deckel oder kartoniertem Einband versehener Gegenstand unterschiedlicher Größe und Verwendung

3. Kurzform: Geschäftsbuch

4. (Sport) Wettliste bei Pferderennen

5. a. (Druckwesen) altes dt. Zählmaß für Druck- und Schreibpapier

b. (Kaufmannssprache) Zählmaß für Blattgold und –silber«

Unserem traditionellen Verständnis von einem Buch in der Bibliothek entspricht die zweite Bedeutung am ehesten. Blicken wir aber noch einmal weiter in eine Enzyklopädie. Was sagt die Wikipedia?

»Ein Buch ist nach traditionellem Verständnis eine Sammlung von gedruckten, beschriebenen, bemalten oder auch leeren Blättern aus Papier oder anderen geeigneten Materialien, die mit einer Bindung meistens auch mit einem Bucheinband (Umschlag) versehen ist.« Danach verweist der Eintrag auf die Definition des Begriffs, den die UNESCO 1964 erarbeitete, und der für Statistiken benutzt wird. Demnach ist ein Buch »eine nicht periodische Publikation mit einem Umfang von 49 Seiten oder mehr, ausgenommen der Einbandseiten, die in einem Land erscheint und der Öffentlichkeit zur Verfügung steht.« Nach dieser Definition ist ein E-Book kein Buch, was der Bundesfinanzhof in seinem Urteil vom Dezember 2015 auch bestätigt hat. Das oberste deutsche Steuergericht legte fest, dass das »digitalisierte Sprachwerk« kein Buch, sondern als elektronisch erbrachte Dienstleistung anzusehen sei. Folglich gilt für E-Books zwar die Buchpreisbindung, aber nicht der reduzierte Steuersatz von 7%, der beim Kauf von Büchern verrichtet werden muss. Für E-Books müssen 19% Mehrwertsteuer gezahlt werden.

Mit der Beschreibung der UNESCO würde auch ein größerer Teil der Künstlerbücher nicht mehr als Bücher bezeichnet werden dürfen. Alle bisher aufgeführten Definitionen haben die Form des Buches beschrieben. Vielleicht aber ist es sinnvoller über dessen Funktion nachzudenken. »Das Buch an sich […] ist ein Behältnis für die Aufbewahrung von Informationen in schriftlicher und / oder bildlicher Form«, schrieb Peter Frank 1976/77 in der Zeitschrift »Art Rite«. Doch auch diese Definition ging den Künstlern nicht weit genug. »A book is a sequence of space«, konstatierte Ulises Carrión (1941-1989) in seinem Manifest »The new art of making books«, das 1975 erstmals veröffentlicht wurde. Diese Aussage öffnet den Begriff des Buches für viele neue Spielarten und Möglichkeiten. Wenn ein Buch eine Folge von Räumen ist, dann kann es auch zur Ausstellung erhoben werden. Genau dies hat Seth Siegelaub (1941-2013) gemacht: »exhibition as books«. Das erste Buch in dieser Reihe war der als »Xerox-Book« berühmt geworden Katalog. 1968 hatte Siegelaub sieben Konzeptkünstlern die Möglichkeit gegeben 25 Seiten für ein Buch zu gestalten, das auf einem Kopierer vervielfältigt werden sollte. Wie die Künstler damit umgingen, können Sie in der Ausstellung »Künstlerbücher. Die Sammlung« ab Dezember 2017 im zweiten Obergeschoss der Galerie der Gegenwart sehen. Die Ausstellung wird auch deutlich machen, wie die Künstler mit der Form des Mediums Buch umgegangen sind. Sie ignorierten jegliche einengende Definitionen, weshalb es auch nicht möglich ist, für den Begriff des Künstlerbuches eine allgemein gültige Beschreibung zu finden.

Wer mehr lesen möchte: Peter Frank: In: Confessions of a professional bookie. In: Art Rite. 1976/77, H. 14, S. 51

Aus WissensWert 10/2017: Christian Boltanski

Was ist Ihre früheste Erinnerung? Welche Erinnerungen haben Sie überhaupt – z.B. an ihre Kindheit und Jugend? Wie ausgeprägt sind diese? Was bedeuten sie Ihnen? Wieviel erinnern Sie wirklich? Wie wahr sind Ihre Erinnerungen? Wieviel kennen Sie nur aus Erzählungen? Wieviel erinnern Sie, allein weil es Bilder gibt? Was lösen Erinnerungen in Ihnen aus? Sehen Sie Bilder vor sich? Läuft vielleicht ein Film ab? Hören Sie Geräusche oder Klänge? Kommt Ihnen ein bestimmter Geruch in die Nase? Und welche Gefühle hinterlassen die Erinnerungen?

Erinnern bedeutet laut Duden, dass etwas im Gedächtnis bewahrt wird, das wieder in das Bewusstsein rückt. Der Auslöser dafür kann sehr unterschiedlicher Natur sein. Selbst ein Geruch genügt, dass man sich plötzlich wieder an eine Situation erinnert, bei der man einen derartigen Duft schon einmal gerochen hat. Im Gehirn befinden sich Dutzende von Erinnerungsarchiven, die jederzeit aktiviert werden können. Erinnerungen sind in der Regel multimedial. Sie sprechen mehrere unserer Sinne an. Auf jeden Fall spielen die Emotionen eine große Rolle. Ein objektives Erinnern ist nicht möglich. Man erinnert sich besonders gut an Situationen, in denen man etwas zum ersten Mal erlebt hat. Deshalb leben an Demenz erkrankte Menschen so häufig in ihrer Vergangenheit. Das Erinnern gehört direkt zur menschlichen Existenz dazu. Verliert man seine Erinnerungen, geht die Persönlichkeit verloren.

Der Künstler Christian Boltanski hat nur wenige präzise Erinnerungen an seine Kindheit. Vieles weiß er, weil es in der Familie tradiert wurde. Und seine Familie hatte ein besonderes Schicksal. Seine Mutter, eine Korsin, kam aus einem katholischen Elternhaus. Die Eltern seines Vaters waren ukrainische Juden. Als die Nationalsozialisten Frankreich besetzten, wurde die Familie, die inzwischen zwei Söhne hatte, immer mehr isoliert. Als es für sie zu gefährlich wurde, ließ sich Boltanskis Mutter offiziell scheiden. Doch das Paar blieb zusammen. Der Vater wohnte für eineinhalb Jahre unter den Dielen der Wohnung, in einem Hohlraum zwischen den Stockwerken eines Patrizierhauses im Quartier Latin in Paris. Der ältere Bruder des Künstlers, Jean-Élie, bekam die Situation bewusst mit. Der kleine Luc Boltanski, später ein bedeutender Soziologe, dachte, der Vater sei verschwunden. Doch immer mal wieder verließ dieser sein Versteck und kam in die Wohnung. So wurde seine Frau gegen Ende des Krieges wieder schwanger und brachte unmittelbar nach der Befreiung von Paris, am sechsten September 1944, einen Sohn zur Welt, der den Namen Christian-Liberté (Christian-Freiheit) erhielt. Der Vater, der sich nun offiziell wieder in der Stadt bewegen konnte, meldete den Sohn beim Bürgermeisteramt an. Da er keine Ausweispapiere seiner geschiedenen Frau dabei hatte, wurde in der Geburtsurkunde »Mutter unbekannt« vermerkt. Bald darauf jedoch heirateten die Eltern erneut und Christian Boltanskis Mutter erkannte ihren Sohn offiziell an.

Das Familienleben gestaltete sich in der neuen Freiheit wieder normaler. Doch die Zeiten des Krieges waren allgegenwärtig und prägten das Zusammenleben und die Menschen bis hin zu dem kleinen Christian. Dieser fühlte sich hin- und hergerissen zwischen der christlichen Religion seiner Mutter und dem Judentum des Vaters, auch wenn beides nicht streng gelebt wurde. Er schämte sich, ein Jude zu sein, und wollte sich lieber wie die anderen Kinder als Franzose identifizieren. Dass er sich anders fühlte als die anderen, wurde verstärkt durch die Isolation, in der die Familie weiterhin lebte. Weder die Eltern noch Christian hatten wirkliche Freunde. Keiner in der Familie verließ das Haus alleine. Die Trennungsangst und die Lebensgefahr, die während der Zeit der Besatzung geherrscht hatten, saßen tief.

So ist es kein Wunder, dass Christian Boltanski sich in seinem künstlerischen Werk zunächst ganz auf die Aufarbeitung seiner Kindheit bezog. 1969 entstanden die ersten Bücher, in denen er versucht, diese zu rekonstruieren. Die kleinen Hefte enthalten Fotokopien von Fotografien oder Dokumenten. Doch Christian Boltanski liebt es, Geschichten zu erzählen. Es blieb nicht bei seiner eigenen. Schon bald rekonstruierte er auch das Leben anderer Menschen. Oftmals wusste er selbst gar nichts von diesen. Allein die Fotografien blieben. Er arrangierte sie so, dass sie etwas über ein Leben aussagen können. Doch lernt man dabei den abgebildeten Menschen wirklich kennen? Christian Boltanski sah eine Ausstellung, die einem verstorbenen Künstler gewidmet war. In den Vitrinen lagen seine persönlichen Dokumente und Gegenstände. Boltanski merkte, wie hohl diese waren, weil sie über den Künstler selbst eigentlich nichts aussagten. Diese Erfahrung prägte Boltanskis Künstlerbücher. Er bildete Dokumente ab, die sein Leben nachstellten – so in dem Buch »L’album photographique de Christian Boltanski 1948-1956«.

Oder er beschränkte sich auf Gegenstände, die jemand besessen hatte – z. B. in »List of exhibits (…)«. Das Leben wurde inventarisiert. In dieser Phase von 1972-1975 entstanden insgesamt 16 Künstlerbücher. Danach gab es eine Pause. Der Künstler widmete sich zehn Jahre lang anderem. Als er 1986 wieder verstärkt damit begann, Bücher zu veröffentlichen, sahen diese vollkommen anders aus. Die Beschäftigung mit dem Tod und der Vergänglichkeit trat in den Vordergrund, z. B. bei »Les Suisses mortes«.

Es gibt zwei Arten von Büchern. Die als Inventare oder Register bezeichneten kleinformatigen Hefte bestehen rein aus Auflistungen von Namen oder Gegenständen. Daneben entstanden größere Bücher mit vergrößerten Reproduktionen von Fotografien. Meistens beschränkt Boltanski sich auf die Gesichter, die den Leser dunkel und fast unscharf, wie durch einen Schleier, ansehen. Anfang der 1990er Jahre kam ein drittes Thema hinzu: Schuld und Unschuld, Opfer und Täter. Gute und schlechte Menschen stehen kommentarlos nebeneinander. In »Sans-Souci« bildet Boltanski 1991 wie im privaten Fotoalbum Fotografien von SS-Männern ab, die alltägliche Szenen zeigen, wie diese Uniformierten im privaten Umfeld mit ihren Kindern spielten oder das Weihnachtsfest inmitten der Familie feierten.

Das Künstlerbuch »Sterblich« (1996) enthält Fotografien von Mördern und deren Opfern, die Boltanski aus dem spanischen Magazin »El Caso« entnahm, einer Zeitschrift, die sich besonders mit lokalen und menschlichen Schicksalen auseinandersetzt. Bereits in zwei Büchern zuvor hatte er mit diesen Fotografien gearbeitet. Nicht alleine die Bilder in Boltanskis Künstlerbüchern sind wichtig. Es ist auch die Kombination zwischen Bild und Text, die im Fokus steht. Schon in dem frühen Buch »L’album photographique de Christian Boltanski 1948-1956« erweckt der Text Irritationen. Er passt nicht immer zum Bild, beschreibt mitunter etwas, was der Leser gar nicht sehen kann. In einem Künstlerbuch aus dem Jahr 2001 kehrte Boltanski noch einmal zum Anfang seines Schaffens und damit zu seinem eigenen Leben zurück. »La vie impossible«, der Titel des Buches, ist zugleich der Titel seines ersten Films. In diesem hatte er lebensgroße Puppen in den Kleidern seiner Schwester und Mutter in Szene gesetzt. Der Film war Boltanskis erster Auftritt in der Kunstwelt.

Das Künstlerbuch »La vie impossible« ist wie eine Rückblende und ein Ausblick zugleich. Für jede rechte Buchseite montierte der Künstler Fragmente aus seinen Werken zu eigenen Collagen. Auf jeder linken Buchseite steht in knappen Sätzen, was die Nachwelt über ihn und sein Werk in Zukunft schreiben könnte.

Christian Boltanski hört nicht auf, zu sammeln und zu archivieren. Die Themen des Holocausts, des Nationalsozialismus, die Fragen, die Verbrechen jeglicher Art aufwerfen, lassen ihn nicht los. Den Tod hat er bei allem im Blick. »Alles, was Du zu erhalten versuchst, stirbt«, sagte er in einem fiktiven Interview mit der Pariser Kunsthistorikerin Catherine Grenier, das seine Memoiren repräsentiert und 2009 in deutscher Sprache unter dem Titel »Das mögliche Leben des Christian Boltanski« erschien. Es war sein ausdrücklicher Wunsch, dass dieses Buch auch deutsche Leser finde. Seit seiner Beteiligung an der documenta 5 in Kassel 1972, fühlt er sich dem Land sehr verbunden – trotz seiner Familiengeschichte. »Die Deutschen kennen ihre Geschichte«, sagt Christian Boltanski (S. 8). Und diese muss im kollektiven Gedächtnis erhalten bleiben. Die individuelle Erinnerung dagegen kann verblassen, verfälscht werden oder in der Masse der Informationen sterben. Das führt uns keiner eindringlicher vor als der Maler Christian Boltanski, u. a. in seinen Künstlerbüchern.

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Aus WissensWert 11/2017: Das Künstlerbuch als Raum

»Das Buch ist zunächst einmal Raum und dann Zeit«, sagte der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuß (*1971) in einem Gespräch mit dem Literaturkritiker Richard Kämmerlings (*1969), das sie anlässlich einer Lesung im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals am 14. September 2017 im Nochtspeicher führten. Bärfuß bezog sich mit dieser Äußerung auf die ungewöhnliche Erzählperspektive seines Romans »Hagard«, in dem sich der Ich-Erzähler immer wieder zu Wort meldet, im Verlauf des Romans aber wenig Genaues berichten kann, so dass die Zeit ins Wanken gerät, und der Leser verstört oder verwirrt zurückgelassen wird. Es geht in diesem kunstvollen Roman, um die eine Sekunde, in der das Leben kippt, und nichts mehr so ist wie zuvor. Provozierend könnte man das nennen, was der Autor den Leser_innen da zumutet.

Mitunter kann man dies auch von Künstlerbüchern behaupten. Die Bildenden Künstler interessieren sich für den Raum des Buches. »Das Buch ist ein Container of provocation«, sagte Dick Higgins (1938-1998). Das Buch bot den Künstlern eine alternative Ausdrucksform, einen anderen Raum zur Darstellung ihrer Kunst. »Das Buch ist die reinste Form, ein Phänomen von Raum und Zeit und Dimensionalität, die einzigartig ist«. Der serielle Charakter der einzelnen Seiten, die Gestaltung der Doppelseite – der Raum spielt eine große Rolle. Die Künstler experimentierten mit den Gestaltungsmöglichkeiten und Grenzen der Buchform. Bei einer Doppelseite können gewollte und ungewollte Beziehungen entstehen. Man kann die Motive spiegeln. Das Blättern unterstützt eine narrative Abfolge. Die Zeit wird dabei vom Betrachter bestimmt, der partizipativ in das Kunstwerk einbezogen wird. Der Künstler gestaltet den Raum oder, wie Ulises Carrión (1941-1989) sagte, »eine Folge von Räumen. Jeder dieser Räume wird in einem bestimmten Moment wahrgenommen – ein Buch ist auch eine bestimmte Folge von Momenten. (…) Ein Buch ist eine Raum-Zeit-Folge«. Wenn ein Buch aber eine Folge von Räumen ist, so kann es ebenso eine Ausstellung sein. Diesen Schritt, den der New Yorker Galerist Seth Siegellaub (1941-2013) mit seinen »books as exhibitions« vollzog, war nur folgerichtig, dachte man die Theorien der Künstler weiter.

Sein berühmtes »Xerox-Book« ist das beste Beispiel für eine solche Ausstellung. 1968 hatte Siegelaub sieben Konzept-Künstler gebeten, 25 DIN-A4-Seiten für eine erste Buchausstellung zu gestalten. Carl Andre (*1935) platzierte zunächst ein Quadrat auf die Seite. Mit jeder Folgenden wurde es ein Quadrat mehr. Da sich der Künstler gerade in Rom aufhielt, gab er die Positionen der Quadrate am Telefon durch. Für die Konzeptkunst reichte das aus. Die Idee ist das Kunstwerk. Der Künstler kann sie selbst ausführen, sie kann aber auch als Anleitung für andere gesehen werden. Oder sie bleibt ein Konzept und wird gar nicht umgesetzt. So hatte Lawrence Weiner (*1942) die »concept art« definiert. Auch er steuerte einen Beitrag zum »Xerox-Book« bei, der aus reinen Anweisungen unter einer mit Kästchen gerasterten Fläche bestand. Der Leser des Künstlerbuches konnte auf diese Weise selbst entscheiden, ob er die Sätze für die Schaffung einer Zeichnung nutzen wollte. Auf diese Weise entstand von Carl Andre bis Lawrence Weiner eine kreative Gemeinschaftsarbeit wie in einer Gruppenausstellung, die deutlich macht, wie unterschiedlich man den Raum eines Buches nutzen kann.

In allen Künstlerbüchern führen die Künstler dem Leser dies vor Augen, indem sie mit unterschiedlichen Darstellungsformen oder mit verschiedenen Materialien arbeiten. Die Collage ist eine der Möglichkeiten bis heute. Viele Künstlerbücher haben Beilagen in Form von kleinen Kunstwerken. Manche, sowie z.B. die Zeitschrift »S.M.S.« (Shit must stop), bestehen komplett aus solchen Einzelstücken, die wie lose Blätter in einem Umschlag liegen. Öffnet man diesen, entfaltet sich die Zeitschrift und nimmt einen völlig neuen Raum ein.

Gerade in der Fluxus-Kunst wird das Spiel mit den Formen zu einem besonderen Experiment. Was das für das Buch bedeutete, erläuterte WissensWert in seiner letzten Ausgabe. Eines wird dabei deutlich: die Künstlerbücher sind weit mehr als herkömmliche Bücher. Der Leser kann sie be-greifen. Das Lesen wird zum Erlebnis. Auch die heutigen Künstler thematisieren die Gestaltung des Raumes in einem Buch. Zwei herausragende Beispiele aus dem Hamburger Materialverlag seien hier vorgestellt.

Im vergangenen Jahr schuf die Künstlerin Gesa Lange (*1972), Professorin für Zeichnung an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften, ihre Abschlussarbeit im Masterstudiengang an der Hochschule für Bildende Künste. In dem Künstlerbuch »Sammlung Minna Menz« übertrug sie einen realen Raum in die Buchform. Minna Menz war eine alte Dame, die in einem kleinen Haus in der Nähe ihrer Verwandten lebte. Als sie vor vielen Jahren starb, ließ die Familie ihr Haus so, wie es zuletzt war.

Es war eher ein Zufall, dass Gesa Lange diesen Raum entdeckte. Sie war sofort fasziniert und wusste, dass sie ein Kunstprojekt damit machen wollte. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich entschied, dass die Buchform das geeignete Medium dafür wäre. So entstand das Künstlerbuch, von dem es 50 Exemplare gibt. Es enthält den vorgefundenen Raum nicht maßstabgetreu, sondern nähert sich ihm durch die individuelle Erfahrung der Künstlerin. Viele Seiten zeigen eine Nahsicht auf Ausschnitte des Raumes, der dadurch abstrahiert wird. Unterschiedliche Materialien verweisen auf die vielfältigen Aspekte, unter denen man den Raum betrachten kann. Durch die Verwendung einer gelben Neonfarbe stellt Gesa Lange den Bezug zur Gegenwart her und bindet den Leser direkt in den geschaffenen Raum mit ein. Spätestens bei der Zeichnung auf Leinwand, die sich als Original in der Mitte des Buches befindet, wird der Betrachter vollkommen in das Buch hineingezogen. »Sammlung Minna Menz« von Gesa Lange wurde für den Bob Calle Prix 2017, den europäischen Künstlerbuchpreis, nominiert.

Auch Almut Hilf bildet in ihrem Künstlerbuch offene und geschlossene Räume ab. Sie geht aber noch einen Schritt weiter. Mit »Bücher sind Wände« präsentiert sie das Künstlerbuch als begehbaren Raum. Im Buch selbst wechseln weiße Leerseiten und Seiten mit schwarzen Farbflächen einander ab. Sie bilden den Rahmen für die Reise in das Buch selbst. Diese wird mit Hilfe einer CD »On the booktrek« bestritten. Ein Text, der von einem Sprecher vorgelesen wird, führt in das Buch hinein. Man durchschreitet es wie man ein Gebäude begeht. Das Buch wird zur Architektur, mitunter zum Labyrinth und die Buchseiten bilden dabei die Wände. Schon Michael Snow (*1929) hatte 1975 den Leser seines Künstlerbuches »Cover to cover« mittels des Buches auf eine Reise mitgenommen (Hamburger Kunsthalle, Bibliothek), doch Almut Hilf führt diese Idee noch entschiedener aus, in dem sie mehrere Sinne gleichzeitig anspricht. Das Buch wird bei ihr gleichzeitig hörbar, greifbar und lesbar. Alle diese Sinne bilden neue Erfahrungen und münden in ein Gesamterlebnis.

Durch die unterschiedliche Gestaltung des Raumes Buch können Künstlerbücher dem Leser immer wieder Momente voller Überraschungen und neue Erlebnisse bieten. Er muss sich nur darauf einlassen und sich auf diese Weise selbst einbringen.

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Aus WissensWert 12/2017: Die erste Generation (1957-1975)

Als Dieter Roth (1930–1998) im Jahr 1957 für den Sohn seines Freundes Claus Bremer (1924–1996) ein Kinderbuch entwarf, konnte er nicht ahnen, dass zehn Jahre später zahlreiche Bücher von Künstler_innen konzipiert wurden. Roth hatte Bremer über die Literatur kennengelernt; vielmehr hatte dieser ihm die Welt der Konkreten Poesie nahegebracht. Eugen Gomringer (*1925) gilt als deren Begründer und auch ihn lernte der in der Schweiz aufgewachsene Roth kennen. Die Schriftsteller der Konkreten Poesie wandten sich gegen einen Sprachverschleiß und forderten einen neuen Umgang mit den Worten. Durch veränderte Kontexte und die Verwendung neuer Sprachsysteme wollten sie auf das Bewusstsein der Leser_innen bzw. Hörer_innen einwirken.

Dieter Roth wurde von dieser Kunstrichtung genauso wie von der Visuellen Poesie, die Texte in Bildformen präsentiert, angeregt. Sein Kinderbuch enthält kein einziges Wort. Grundfarben und –formen beherrschen die Seiten. Durch Ausstanzungen schafft Roth immer neue Durchblicke. Dem Kinderbuch folgte ein Bilderbuch, das auf dem gleichen Prinzip aufbaut, statt dickerer Pappseiten jedoch farbige Folien enthält. Während das Kinderbuch mit einer Spiralbindung zusammengehalten wird, wurden die Folien des Bilderbuchs in einen Ordner geheftet. Der Leser könnte die Reihenfolge des Buches theoretisch verändern und neue Ein- und Durchblicke schaffen. Beide Bücher erschienen zunächst als Unikate ganz privat für einen bestimmten Adressaten. Dieter Roth begann nun aber auch die Herstellung von Künstlerbüchern in größeren Auflagen. Damit kann er als Vorreiter oder Mitbegründer der Kunstgattung Künstlerbuch angesehen werden, bei der der Künstler alles alleine bestimmt und gestaltet.

Roths Künstlerbücher enthalten sowohl Texte als auch Bilder. Mit dem Medium Buch geht der Künstler experimentell um. Kaum ein anderer hat Bücher so exzessiv geschaffen wie Dieter Roth. Sie bilden einen wichtigen Teil seines Oeuvres und sind eigenständige Kunstwerke. Auf diese Definition legen auch die Konzeptkünstler_innen Wert. Diese in Amerika entstandene Kunstform nimmt sich des Buches an, wie zuvor keine andere. Die Künstler_innen sehen in dem Medium die ideale Ausdrucksweise ihrer Kunstauffassung. Sol LeWitt (1928–2007) könnte man als den »Vater der Konzeptkunst« bezeichnen. 1967 schrieb er die »Paragraphs on Conceptual Art«, 1969 »Sentences of Conceptual Art«. Sie gelten als die Geburtsstunde dieser Kunstrichtung. Die Konzeptkunst reduziert das Objekt auf die Idee, das Konzept des Künstlers. Bereits die Skizze, der Plan, ein Text oder Modell, selbst eine (Bau-)Anleitung wurden zum künstlerischen Oeuvre gezählt; ja mitunter beschränkt es sich auf diese Art von Kunst. Die Idee schließlich ist wichtiger als deren Umsetzung. In den Büchern LeWitts äußern sich seine Ideen in einem Zusammenspiel von Formen und Farben. Der Künstler setzte sich intensiv mit diversen Strukturen auseinander und untersuchte deren Ästhetik. Diese Strukturen können sich in abstrakten Formen oder hervorgerufen durch unterschiedliche Farben äußern (wie z. B. in »Lines & Colors«, 1975). Sie können aber auch ganz konkrete Gegenstände betreffen, wie in »Brick wall«, 1977 u. a.. Die Bibliothek der Hamburger Kunsthalle besitzt verschiedene Künstlerbücher von Sol LeWitt.

Als Antwort auf LeWitts erste Definition der Konzeptkunst formulierte Lawrence Weiner (*1942) sein »Statement of intent«. Auch er verweist auf die Idee des Künstlers als zentralem Werk. Diese kann von ihm oder anderen ausgeführt werden, muss es aber nicht. Weiners Künstlerbuch »Statements« steht ganz im Geiste dieser Kunstauffassung. Es enthält allein sprachliche Anweisungen, Beschreibungen für die Schaffung von Skulpturen und anderen Arbeiten. Das Buch, das 1968 in einer relativ hohen Auflage publiziert und für $ 1,95 verkauft wurde, gilt als wegweisend für die Konzeptkunst und gehört zu den ganz großen Klassikern der Künstlerbuchgeschichte. Neben Sol LeWitt und Lawrence Weiner sind Künstler wie Robert Barry (*1936), Douglas Huebler (1924–1997), Robert Morris (*1931) sowie auch die Hamburger Künstlerin Hanne Darboven (1941–2009) Vertreter_innen der Konzeptkunst.

Unterschiedliche Strömungen der Avantgarde der 1960er Jahre werden in ihr vereint. So auch die Werke von Ed Ruscha (*1937), der mit seinen frühen Fotobüchern für Aufregung in der Buch- und Kunstwelt sorgte. Dabei bezeichnet sich Ruscha selbst gar nicht als Fotokünstler. Doch seine fast immer gleich gestalteten Künstlerbücher enthalten ausschließlich Fotografien. Alles begann mit 26 verschiedenen Tankstellen (Twenty-six Gasoline Stations), die Ruscha zwischen Los Angeles und Oklahoma fotografierte. Jede Buchseite des 1963 erstmals erschienenen Buches zeigt ein Objekt. Der Titel auf dem Pappeinband des Paperbackbandes beschreibt exakt den Inhalt. Das Buch enthält das dort Angekündigte – nicht mehr und nicht weniger. Ruscha führt diese Bücher fort. Aus Tankstellen werden Apartments, kleine Feuer, Baby und Kuchen und vieles mehr. Bei genauem Hinsehen offenbart sich der trockene Humor des Künstlers. Für den Buchmarkt waren Ruschas nüchterne Bücher eine Zumutung und Provokation. »Twentysix Gasoline Stations« wurde von der Library of Congress, an das ein Exemplar im Zuge des amerikanischen Pflichtexemplarrechts gesandt wurde, aufgrund seiner unorthodoxen Form und des wenig informativen Inhalts abgelehnt. Ed Ruscha nutzte diese Zurückweisung in einer Anzeige für das Buch in der Zeitschrift »Artforum«.

Die Bücher der Konzeptkünstler_innen bilden den Ausgangspunkt für die Sammlung in der Bibliothek der Hamburger Kunsthalle. Wie reich und vielfältig jedoch die Beschäftigung der Künstler_innen mit dem Buch ist, zeigt, dass auch Vertreter_innen vieler anderer Kunstrichtungen mit Beispielen in der Sammlung zu finden sind. So hat beispielsweise auch der Pop Art-Künstler Andy Warhol (1921–1987) Bücher konzipiert und gestaltet, die für eine Zusammenfassung seines Schaffens stehen. Sein »Index (Book)« ist ein Bombardement von skurrilen Ideen und ein Katalog zu den vielfältigen Werken des Ausnahmekünstlers. Neben Büchern schuf Warhol andere Künstlerpublikationen. Er produzierte und gestaltete Schallplatten und publizierte Zeitschriften. Zum Teil findet man diese anderen Publikationsformen auch in »Andy Warhol’s Index (Book)«, das zahlreiche Beilagen enthält.

Das Buch als Spiel und Experiment führt vor allem in der Kunst des Fluxus zu erstaunlichen Formen, bei denen man durchaus fragen kann, was ein Buch eigentlich ausmacht. Daniel Spoerri (*1930) setzt den Zufall als wichtigste Komponente in den Mittelpunkt seines berühmten, 1966 erstmals in englischer Sprache erschienenen Künstlerbuches »An anecdoted topography pf chance. (Re-Anecdoted Version)« (Anekdoten einer Topographie des Zufalls). Die Frage ist, ob man den Zufall wissenschaftlich beschreiben kann. Das Buch enthält Texte über 80 Alltagsgegenstände, die der Künstler zufällig auf einem Tisch in seinem Hotelzimmer arrangierte. Doch handelt es sich nicht um Beschreibungen, sondern um persönliche Erinnerungen, Zitate, Rezepte etc. Die im Buch enthaltene Zeichnung des Tisches stammt von Roland Topor (1938–1997), der das Möbelstück nur aus telefonisch übermittelten Erzählungen Spoerris kennt. Auch Robert Filliou (1926–1987), Dieter Roth und Emmett Williams (1925–2007), die in weiteren Ausgaben ihre Anmerkungen, Hinzufügungen und Kommentare veröffentlichten, haben den Tisch nie gesehen. Insgesamt gibt es 10 unterschiedliche Ausgaben von Spoerris Künstlerbuch, von dem die Bibliothek der Hamburger Kunsthalle drei besitzt.

Für die Fluxusbewegung waren Happenings eine viel genutzte Ausdrucksform. Für Alan Kaprow (1927–2006), einen der wichtigsten Vertreter dieser Kunstrichtung, waren sie eine Erweiterung des »Action Paintings«. 1966 veröffentlichte er sein Buch »Assemblage, Environments & Happenings«, in das er die Leser_innen bittet »einzutreten« wie in ein Theater. In dem Buch erläutert er auf kreative Art und Weise die Charakteristika der neuen Kunstform. Die Erfahrung von Zeit und Raum, unterschiedlichen Klängen, Geräuschen, Gerüchen und Materialien spielt eine wichtige Rolle. Geschaffen werden sollen neue soziale Freiräume. Um diese geht es auch dem deutschen Künstler Jörg Immendorff (1945–2007). Die Publikation »Lidlstadt / Lidlraum« nimmt sowohl Bezug auf eine Aktion, die Immendorf vom 5. August 1968 bis 10. August 1969 in Düsseldorf durchführte, als auch auf eine Lidlkommune. Das im Selbstverlag in Zeitungsform hergestellte Künstlerbuch besteht aus zusammengehefteten Beschreibungen, Konzepten, Plänen, Fotografien und Berichten.

Schon die wenigen Beispiele machen deutlich, wie die Kunstgattung des Künstlerbuches in den 1960er Jahren geradezu »aus dem Boden schoss«. Das lag sicherlich auch an einer veränderten Produktionsmöglichkeit. Der Offsetdruck machte das Buch erst recht zum Massenmedium, dessen Produktion kostengünstiger möglich war. Die Künstler_innen nutzten diese Chance zur Verbreitung ihrer Ideen und zur Demokratisierung der Kunst. Aus diesem Grund wurden ihre Künstlerbücher in großen Stückzahlen produziert und zu erschwinglichen Preisen verkauft. Dieser Verkauf fand direkt bei den Künstler_innen statt. Mit den Künstlerbüchern versuchten die Künstler_innen auch gegen den Kunstmarkt zu protestieren. Sie schufen ihre eigenen Vertriebswege und Ausstellungsräume. Die Bücher wurden zu Ausstellungen erhoben (wie z.B. das »Xerox-Book«). Bei aller Vielfalt gilt jedoch für jedes Künstlerbuch: Das Buch ist ein Kunstwerk.

Wer mehr lesen möchteKünstlerbücher. Die Sammlung. Katalog der Ausstellung Hamburg 2017/2018. Hamburg 2017

Aus WissensWert 01/2018: Die zweite Generation (1976-1999)

1977 kamen die Künstlerbücher mit Macht nach Deutschland. Erstmals gab es einen Ausstellungsbereich auf der documenta 6 in Kassel, der mit diesem Begriff überschrieben war. Der Katalog spiegelt die dokumentarische Herangehensweise des Kurators Rolf Dittmar (-1999) wider. Dabei sprach er von der »neuen Buchkunstbewegung«, deren Werke er in illustrierte Bücher, bibliophile Bücher und Künstlerbücher einteilte. Überhaupt begann man in dieser Zeit mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der neuen Kunstgattung.

Bereits 1970 hatte Germano Celant (*1940) anlässlich einer ersten Gruppenausstellung einen Aufsatz geschrieben, in dem er eine Definition des Begriffs »Künstlerbuch« wagte. 1974 erschien eine erweiterte Ausgabe seines Textes in der Zeitschrift »Interfunktionen«. Celant ergänzte vor allem eine ausführliche Bibliographie, die alle ihm bekannten Künstlerbücher auflistete. In den folgenden Jahren versuchten die Wissenschaftler immer wieder das in Begriffe zu fassen, was die Künstler_innen ihnen in den Büchern darboten. Bis heute gibt es keine wirkliche Definition des Begriffs »Künstlerbuch«, die man auf alle Sammlungen der Welt anwenden könnte. 1981 ordnete Tim Guest die Künstlerbücher in dem Beitrag zu seinem Ausstellungskatalog historisch ein, indem er Vorläufer benannte. Eine erste sehr detaillierte Systematik wurde 1985 von der Bibliothekarin und Kunsthistorikerin Anne Moeglin-Delcroix (*1948) publiziert. Ein Jahr später betitelte Artur Brall sein Buch »eine Analyse«. Alle diese Veröffentlichung zeigen, dass die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der »Künstlerbücher« begonnen hatte.

Wie reagierten die Künstler_innen darauf? Sie entwickelten diese Kunstgattung weiter – auf ihre ganz kreative Art und Weise. Hatte Alan Kaprow (1927-2006) den Leser seines Künstlerbuches gebeten, in selbiges einzutreten, so folgte Michael Snow (*1929) diesem Beispiel. Sein Künstlerbuch zeigt auf dem Cover eine geschlossene Tür. Durch diese verlässt der Künstler seine Wohnung und nimmt den Leser mittels Fotografien mit auf eine Autofahrt zu seiner Galerie. Michael Snow, der ebenso Filme gemacht hat, inszeniert das Buch wie einen solchen. Das Umblättern der Seiten bietet dem Künstler die Möglichkeit für Überraschungen und teils absurde Perspektivwechsel, die ihm der Film nicht geben kann. Am Ende des Buches steht wieder die Tür, durch die man das Werk verlässt. »Cover to cover« spielt mit der Illusion, die jedoch so offen gelegt wird, dass der Leser sie sofort durchschaut. Der Buchtitel ist zugleich Programm. Von Einband zu Einband schafft der Künstler einen eigenen Raum, den man von vorne nach hinten und wieder zurück beschreiten kann.

In Filmen werden Geschichten gezeigt. Ein großer Erzähler ist auch der amerikanische Künstler John Baldessari (*1931). Vielmehr macht er die Betrachtenden seiner Künstlerbücher zu Erzählenden, indem er ihnen etwas anbietet, das sich im Kopf verselbstständigt und zur Geschichte wird. Ein Beispiel dafür ist »Brutus killed Caesar«. Der Titel umfasst auch schon die einzigen Worte des Buches, doch er führt uns hin zu unserer eigenen Geschichte, die sofort entsteht, wenn man das Buch durchblättert.

Alle Seiten der kleinen querformatigen Publikation sind gleich gestaltet. Sie werden mit einer Spiralbindung zusammengehalten, so dass man sie schnell durchblättern kann. Jede Seite zeigt drei Fotografien. Die beiden äußeren Bilder sind immer gleich. Zu sehen sind zwei Männer, im Profil einander zugewandt. Man weiß nicht, ob sie miteinander reden, ob sie übereinander sprechen, ob sie sich anschreien oder auslachen. Ihre Mimik lässt alle Interpretationen zu. In der Mitte zwischen den beiden Männern befindet sich ein Gegenstand. Dieser wechselt von Seite zu Seite. Baldessari thematisiert in seinen Werken immer wieder das Verhältnis von Bild und Sprache. Inwieweit beeinflusst der Buchtitel die Geschichten, die im Kopf des Lesers entstehen, wenn er das Buch durchblättert? »Brutus killed Caesar« enthält unendlich viele Mordgeschichten, gebannt in drei Worte und jeweils drei Fotografien auf 35 Blättern.

Die Künstlerbücher der ersten Generation werden überwiegend von männlichen Künstlern geschaffen. Das ist auch in der zweiten Generation noch der Fall. Aber es ist auffällig, dass gerade zum Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre verstärkt Bücher von Künstlerinnen publiziert werden. In der Sammlung der Bibliothek der Hamburger Kunsthalle gilt dies vor allem für die Bücher, die aus Performances resultieren. Ida Applebroog (*1929) beispielsweise thematisiert in ihren kleinen Heften das alltägliche Miteinander der Geschlechter. »Look at me« ist wie ein Schrei nach Aufmerksamkeit, den die namenlose Protagonistin »Walter« entgegenschreit. Nur zehn Blätter umfasst das Künstlerbuch, das im Untertitel selbst zur Performance erhoben wird. Das zentrale Bildmotiv wird dabei wiederholt. Es zeigt den Blick durch ein Fenster auf ein Paar. Sie richtet sich, halb auf dem Bett liegend, auf und hält ihn – Walter – am Arm fest, möchte ihn zurück auf das Bett ziehen. Doch er wendet sich stur von ihr ab und strebt in die andere Richtung. Die vorletzte Seite des Buches, über die der Ausruf »We are drowning, Walter« (Wir ertrinken, Walter) quer geschrieben steht, bestärkt die Vorahnung beim Lesen, hier eine private Tragödie zu beobachten. Ida Applebroogs Bücher nutzen den eigenen Raum des Künstlerbuches, um einen Ablauf wie in einer Performance zu gestalten. Auch diese spielt sich schließlich im Kopf der Leser_innen ab.

Das Private hält noch auf eine ganz andere Art und Weise Einzug in die Künstlerbücher. Sie werden zur Dokumentation von Lebensläufen, zu Archiven der Erinnerung. Ein Künstler, der sich immer wieder mit der Erinnerung auseinandersetzt, ist Christian Boltanski (*1945). In seinen Künstlerbüchern vermischt er Fakten und Fiktion und hinterfragt auf diese Weise den Wert unserer Erinnerungen. Was erinnern wir eigentlich tatsächlich? Was wissen wir nur aus der Vergangenheit, weil es Erzählungen oder Bilder gibt? Wie »wahr« sind Fotografien – oder Worte? Das Künstlerbuch »Le Lycée chases« aus dem Jahr 1987 enthält 18 Porträtfotografien in Negativansicht. Gedruckt wurden sie auf geschwärztem Pergaminpapier. Die Seiten sind also transparent. Sie lassen die Köpfe wie Totenschädel wirken. Zudem sind die Porträts unscharf. Der Leser kann gerade einmal das Geschlecht der abgebildeten Personen erkennen. Die dargestellten Schüler_innen der Abschlussklasse eines Wiener Gymnasiums aus dem Jahr 1931 stehen damit symbolisch für das Schicksal vieler Juden und Jüdinnen, die hoffnungsvoll in die Zukunft eines eigenen Lebens entlassen wurden, das ein paar Jahre später jäh durch den Nationalsozialismus beendet wurde.

Während die Aufarbeitung der Vergangenheit für die einen Künstler_innen zum Thema wurde, nutzten andere die Künstlerbücher zur Überwindung gegenwärtiger Schranken und Restriktionen. Von Beginn an war die Künstlerbuchbewegung eine internationale. Überall auf der Welt nahmen sich Künstler_innen des Mediums Buch an. Gerade für die Künstler_innen des Ostblocks z. B. wurde das Künstlerbuch zu einer Chance, mit Kollegen auf der ganzen Welt in Kontakt zu treten. Ein Beispiel dafür ist Ralf Winkler (1939-2017). 1976 lebte der Künstler noch in der DDR, in Dresden. Um sich dem Zugriff des Ministeriums der Staatssicherheit zu entziehen, nahm er verschiedene Pseudonyme an, mit denen er seine Werke signierte. Ein solcher Name ist A. R. Penck, mit dem er, auch mit Hilfe eines Buches, im Westen bekannt wurde. A. R. Penck hatte Kontakt zu Georg Baselitz (*1938). Immer wieder gelang es ihm, Werke in den Westen zu schmuggeln. Auf diese Weise erhielt Baselitz 1976 das Manuskript für ein Künstlerbuch. Dieses leitete er an den Kölner Galeristen Michael Werner weiter. Der ließ das Buch von Ilka Schellenberg setzen und veröffentlichte es im Verlag Greno in Obertshausen.

»Ich bin ein Buch / kaufe mich / jetzt« – der Titel von A. R. Pencks Künstlerbuch ist Programm. Das Buch dreht sich um sich selbst und stellt auf diese Weise das gesamte Medium auf den Kopf. Es zwingt die Leser_innen über dieses nachzudenken. Gleichzeitig verwickelt es ihn in einen stillen Dialog, indem es ihn direkt anspricht. Diese Kommunikation ist nicht immer freundlich. Mitunter provoziert das Buch und fordert den Gegenspruch heraus. Es drängt sich regelrecht zwischen Autor und Leser_in. Die Ware verselbstständigt sich. Das Buch befiehlt, fragt, schlägt vor und thematisiert damit den Reflexionsraum von Kunst.

Die Künstler erschlossen sich durch die Bücher neue Räume. Die Vertreter_innen der Land Art gingen in die Natur, durchwanderten sie, hinterließen dort ihre Kunstwerke und brachten diese in Form von Büchern zurück zu den Betrachter_innen. Ein wichtiger Vertreter dieser Kunstrichtung ist Richard Long (*1945). 1980 publizierte die Londoner Galerie Anthony d’Offay sein Künstlerbuch zu einer Tageswanderung, die Long 1978 durch Cornwall vollzogen hatte. Das Buch »A walk past standing stones« zeigt neun Fotos von Steinen, die Long während der Wanderung fotografierte. Die Leporelloform dieses kleinen Künstlerbuches unterstützt, dass der Leser die Seiten nach und nach lesen kann, bis die gesamte Wanderung entblättert vor ihm liegt.

Die zweite Generation der Künstlerbücher erweiterten diese Kunstgattung um zahlreiche neue Themen. Die Künstler erkundeten neue Räume, für die sie die Form des Buches nutzten. Die Ergebnisse sind häufig sehr privater Natur, schließlich gestaltet sich das Medium als ein wesentlich persönlicheres als die weißen Wände einer Galerie oder eines Museums. Neben der Zurückgezogenheit in den eigenen Raum entstanden Netzwerke unter den Künstlern. Künstlerbücher eignen sich natürlich hervorragend zum Versand und zur Darstellung seiner Kunst. Somit erhalten sie mitunter auch einen dokumentarischen Charakter. Und sie sind häufig das einzige Überbleibsel einer ansonsten vergänglichen Kunstform, wie der der Performance oder auch Land art. Eine weitere Entwicklung ist auffällig: die Künstlerbücher der zweiten Generation nutzen das Medium zu kommunikativen Zwecken. Die Leser_innen werden stärker einbezogen. Ohne sie funktioniert das Buch gar nicht. Nur durch die Betrachter_innen werden die Künstler_innen zu Geschichtenerzähler_innen. Damit kann er erinnern, in Frage stellen, unterhalten oder kritisieren.

Allen Künstlerbüchern der zweiten Generation ist gemein, dass sie den Raum des Buches noch einmal kreativ erweitern und vielfältig auf neue Weise nutzen.

Wer mehr lesen möchte:

Aus WissensWert 02/2018: Die dritte Generation (2000-2017)

Die Geschichte des Künstlerbuches ist allzeit eng verknüpft mit den technischen Möglichkeiten der Buchproduktion. War es in den 1960er Jahren der Offsetdruck, der das Büchermachen revolutionierte und die Künstlerbücher der ersten Generation ermöglichte, so wird auch die dritte Generation stark von der Technik beeinflusst. Im 21. Jahrhundert ist die Computertechnologie im Alltag angekommen. Die Anzahl der PCs, die in Privathaushalten genutzt wurden, stieg rasant an. 2017 besaßen 90% aller deutschen Haushalte einen Computer. Die Zahl der deutschen Internetnutzer_innen war genauso hoch. Die weltweite Quote betrug fast 50%. Man könnte anhand dieser Zahlen pessimistisch werden und den Untergang des Buches vermerken. Die Statistiken von Verlagen und Buchhandel sind denn auch rückläufig. 2017 wurden gut 15.000 Bücher weniger produziert als noch 2010. Aber die Gesamtzahl der Neuerscheinungen liegt immer noch bei über 169.000 Titeln.

Für den Markt der Künstlerbücher kann man diesen rückläufigen Trend nicht verzeichnen. Im Gegenteil! Es gibt sehr viele junge Künstler_innen, die das Medium für sich entdeckt haben und Bücher erschaffen. Vielleicht gibt es gerade für die sogenannten Digital Natives die Möglichkeit, sich auf andere Art und Weise auszudrücken als im digitalen Alltag, der von Social-Media-Beiträgen, Datenbanken und anderen digitalen Veröffentlichungsformen geprägt ist.

Wie sehen dann diese Künstlerbücher der dritten Generation aus? Die Künstler_innen setzen da an, wo ihre Vorgänger aufgehört haben. Sie nutzen das Künstlerbuch als Raum. Das ist nicht revolutionär, doch die Art und Weise, wie dies geschieht, ist neu. Mit großer Selbstverständlichkeit setzen sie die Fülle der Medien ein, die ihnen zur Verfügung stehen. Das 2016 erschienene Künstlerbuch »Bücher sind Wände« von der Hamburger Künstlerin Almut Hilf (*1980) besteht aus einem klassischen Buch. Auf jeder Doppelseite stehen sich schwarze und weiße Blätter gegenüber. Lebendig wird das Buch erst durch die beiliegende Audio-CD. Mit ihrer Hilfe wird es zum Gebäude, das der Leser, Raum für Raum, Seite für Seite durchwandert. Das Blättern spielt dabei eine bedeutende Rolle. Es gibt dem Leser die Freiheit der Selbstbestimmung. Es kennzeichnet die Bewegung, die das Labyrintische des Buches hervorhebt.

Sound und Buch gehören auch für die Künstlerin Hanne Lippard (*1984) eng zusammen. Durch Gestaltung und Typographie visualisieren ihre Künstlerbücher die Klangarbeiten, die sie im Raum schafft. Das Blättern erzeugt dabei den Rhythmus.

Nicht nur die Verwendung unterschiedlicher Medien, sondern auch der Einsatz verschiedener Stilmittel innerhalb eines Buches kennzeichnen viele Künstlerbücher der dritten Generation. Dadurch kann das Buch ebenso den Charakter eines Labyrinths erhalten. Der englische Künstler Tris Vonna-Michell (*1982) beispielsweise entwickelte in seiner Publikation aus dem Jahr 2010 für jeden Arbeitsprozess eine eigene Gestaltung. Teile des Buches wurden bereits 2009 für eine Ausstellung auf einer alten Druckerpresse vom Künstler selbst produziert. Diese Seiten gestalten sich wesentlich kleiner als die übrigen Buchseiten. Auch das verwendete Papier und die Typografie differieren. Das Künstlerbuch spiegelt das Schaffen des Künstlers wider und trägt folgerichtig auch schlicht seinen Namen zum Titel. Tris Vonna-Michell arbeitet in seinen Performances häufig mit Improvisationen. Er sieht seine Künstlerbücher nicht als abgeschlossene Projekte, sondern als unendliche Geschichten, die sich immer weiter erzählen lassen. Raum und Zeit werden durch das Buch überschritten.

Vonna-Michells Buch erschien im Züricher JRP|Ringier-Verlag. Immer mehr professionelle Verlage nehmen Künstlerbücher in ihr Programm. Waren die Gebrüder König in Köln eine der ersten, so entstanden gerade im 21. Jahrhundert weitere Fachverlage, die sich auf Künstlerbücher spezialisieren. Neben dem Materialverlag der Hochschule für Bildende Künste (HfBK) ist in Hamburg z. B. der Textem-Verlag zu nennen. Aber auch große Kunstbuchverlage produzieren inzwischen Künstlerbücher. Immer häufiger werden zudem Ausstellungskataloge zum Künstlerbuch deklariert, weil die Künstler an der Entstehung beteiligt waren. Diese Entwicklung zeigt, dass der Begriff des Künstlerbuchers immer noch nicht klar definiert wurde. Diese Unschärfe lässt aber auch gewisse Spielräume, sowohl für den Künstler als auch für den Verlag, der mit diesem Begriff wirbt. Das macht die Auswahl und Zuordnung des Künstlerbuches für Sammlungen nicht unbedingt leichter.

Eine Gruppe der Künstlerbücher ist es, die den kommerziellen Markt im Besonderen erobert hat: die Fotobücher. Erik van der Weijde beschreibt in seinem Künstlerbuch »This is not my« sehr detailliert, warum gerade das Medium des Buches für einen Fotografen so interessant ist. In diesem kann er seine Arbeiten in Beziehung zueinander oder zu einem Text setzen. Alleine die Entscheidung, zwei Fotografien auf eine Doppelseite zu setzen oder durch das Umblättern von einander zu trennen, gehört wesentlich zum Konzept dazu. Blickt man mit dem Wissen aus der Geschichte der Künstlerbücher auf Erik van der Weijdes Buch, so erinnert es deutlich an die Publikationen des Künstlerbuch-Pioniers Ed Ruscha (*1937), auch wenn es sich im Format wesentlich unterscheidet. Das ist größer als Ruschas kleine Heftchen, doch der Einband ist genauso weiß gestaltet wie diese. In großen roten Buchstaben steht auf dem vorderen Cover der Titel. Der Zusammenhang bestätigt sich im Inneren des Buches. In einem Text spricht der Künstler von seinem großen Vorbild: Ed Ruscha. Die Künstler der dritten Generation kennen ihre Vorgänger und beziehen sich häufig ganz direkt auf die Künstlerbücher der ersten Generation der 1960er/70er Jahre, die inzwischen zu Klassikern geworden sind. Auch Erik van der Weijdes Buch ist eine Verlagspublikation, erschien 2016 im Spector-Verlag in Leipzig.

Daneben gibt es jedoch einen großen Markt an Künstlerbüchern, die ganz klassisch in Gänze von Künstler_innen konzipiert, gestaltet und hergestellt wurden. Die Bücher von Stefan Marx (*1979) sind ein solches Beispiel. Am Anfang seiner Künstlerbücher steht die Zeichnung. Der Künstler, der stets einen schwarzen Tuschestift mit sich führt, zeichnet, wo er nur kann, auf weißem Papier. Für ein Buch stellt er an der Wand diese Zeichnungen zu Buchseiten zusammen. Die Auswahl wird dann auf einem Kopierer vervielfältigt. Die Farbe kommt alleine durch das ausgewählte Kopierpapier in die Bücher. Stefan Marx’ Künstlerbücher kann man den Zines zuordnen. Diese aus der Popkultur erwachsene Publikationsform passt auch zu den Werken, bei denen man Einflüsse aus Comics, japanischen Mangas und der Graffitikunst findet. In den kleinen Heften reiht Marx die Zeichnungen einfach hintereinander. Oftmals haben seine Bücher noch nicht einmal einen Titel geschweige denn die namentliche Nennung der Künstler_innen. Die Geschichten, die sie erzählen, müssen sich die Betrachter_innen selbst zusammenreimen.

Stefan Marx (*1979): Cover. In: ders.: FedEx. Hamburg 2016. Hamburger Kunstthalle, Bibliothek © Hamburger Kunsthalle. Foto: C. Irrgang, Hamburg

Gerade diese selbst erstellten Künstlerbücher kann man fast nie über den Buchhandel erwerben. Wer eine Sammlung aufbauen oder vervollständigen möchte, muss die Künstler_innen kennen oder Künstlerbuch-Messen besuchen. Die größte Messe findet in New York im PS1 des Museum of Modern Art (MOMA) statt. Organisiert wird sie von Printed Matter, einer gemeinnützigen Institution, die ebenso einen Bookshop nebst Onlineversand betreibt. 1976 bereits wurde sie von amerikanischen Künstler_innen, darunter z. B. Sol LeWitt (1928-2007), gegründet. Die im September stattfindende Künstlerbuchmesse zieht mehr als 43.000 Besucher an. Doch nicht nur in New York, sondern auf der ganzen Welt werden Künstlerbuchmessen organisiert – häufig von Künstler_innen selbst. Einen guten Überblick gibt die Internetseite von Clemens Tobias Lange (*1960), einem Hamburger Künstler mit eigener Presse. In Deutschland haben sich gerade in den vergangenen Jahren Künstlerbuchmessen in Berlin, Köln und Hamburg etabliert. Eine besondere Buchhandlung speziell für Künstlerpublikationen befindet sich in Wien. Der Künstler Bernhard Cella (*1969), der u. a. an der HfBK in Hamburg studierte, führt dort einen Salon als Skulptur – ein Modell einer Buchhandlung im Maßstab 1:1. Der Charakter des Kunstwerks gibt ihm den Raum, gut 9.000 Künstlerbücher auf ungewöhnliche Weise zu arrangieren und zu präsentieren.

Auch die Künstlerbücher der dritten Generation bergen viele Überraschungen. Das Buch des englischen Künstlers David Shrigley (*1968) beispielsweise kam im Jahr 2003 im Schriftentausch in die Bibliothek der Hamburger Kunsthalle. Ausgepackt aus dem Versandumschlag meinte man erst einmal, ein Kinderbuch in den Händen zu halten. Auch Andy Warhol hatte schließlich in seinen Künstlerbüchern die Formen des Kinderbuches genutzt. Bei genauerem Hinsehen jedoch entpuppt sich der Inhalt von »Yellox bird with worm« als ausgesprochen brutal. Shrigleys Zeichnungen zeigen eine grausame von Gewalt beherrschte Welt, die um ihr Überleben kämpft. Das Künstlerbuch wird zum kritischen Werk, in dem es die Assoziationen der Leser bewusst in die Irre führt.

Eine letzte beobachtete Entwicklung der Künstlerbücher der dritten Generation sei »Lust am Experiment« genannt. Schon die ersten Künstler experimentierten mit der klassischen Form des Buches und stellten sie in Frage. Die Künstler der Künstlerbücher des 21. Jahrhunderts nutzen ganz selbstverständlich die Form, die für sie am besten zu ihren Künstlerbüchern passt. Da kann die äußere Form dem Inhalt entgegengesetzt sein, wie bei David Shrigley, sie kann aber auch mit diesem ganz und gar konform gehen. Ein Beispiel hierfür ist »OVO« von Marianne Nagel.

Wer war zuerst da, die Henne oder das Ei? Eine grundlegende Frage, die aus Nagels Buch stammen könnte. Die Künstlerin spricht die Leser direkt an und stellt ihnen eine essentielle Frage nach der anderen. »Wissen Sie noch, womit alles begann?« »Was denken Sie unter einem Sternenhimmel?“« Die Fragen wurden von Nagel auf einen schmalen Papierstreifen getippt. Dieser ist so gewickelt, dass er ein Ei formt – es liegt in einem Kästchen, gut auf Samt gepolstert. Am Ende des Lesevorgangs ist das Buch zerstört. »OVO« überschreitet die klassische Buchform und lässt sich dennoch wie ein Buch lesen.

Die Künstlerbücher des 21. Jahrhunderts zeigen, dass sich die Gattung in der Kunstwelt etabliert hat, ja regelrecht einen neuen Boom erfährt. Die Künstler besitzen wesentlich mehr technische Möglichkeiten, Bücher zu produzieren und Experimente zu wagen, als die vorhergehenden Generationen. Das macht die Künstlerbücher zu abwechslungsreichen Objekten. Man darf gespannt sein, wie sich die Gattung des Künstlerbuches auch angesichts einer fortschreitenden Digitalisierung weiterentwickelt. Was heute noch immer fehlt, ist die durchgängige theoretische Behandlung in der Kunstgeschichte. Die Künstlerbücher wären es Wert, stärker in das Lehrangebot der Universitäten aufgenommen zu werden.

Wer mehr lesen möchte: Künstlerbücher. Die Sammlung. Katalog der Ausstellung Hamburg 2017/2018. Hamburg 2017

Aus WissensWert 02/2018: Martin Kippenberger

Martin Kippenberger hatte eine besondere Leidenschaft für Bücher. Im Café Broadway in Köln diskutierte er über Literatur und kannte dadurch den Inhalt vieler Romane. Die wenigsten davon hatte er selbst gelesen. Als Legastheniker fiel ihm das Lesen schwer. Kippenbergers Interesse am Medium Buch drückt sich in etwa 150 Künstlerbüchern aus, die er in den Jahren 1977-1997 schuf. Darin ging es ihm um eine kontinuierliche Dokumentation seiner Arbeiten. Doch die Bücher sind weit mehr, denn er bestimmte auch deren Form in Schriftgestaltung, Layout, Druck und Papierqualität. Einige der Künstlerbücher haben autobiografischen Charakter. Gewohnt war er dies schon aus frühen Kindertagen. Sein Vater hatte immer wieder zu festlichen Anlässen Bücher in kleinen Auflagen publiziert. Martin Kippenbergers Leben wurde auf diese Weise schon früh Teil seiner Vorführung und Stoff für Erzählungen.

Im Jahr 1976 starb Kippenbergers Mutter und hinterließ ihm eine große Summe Geld, mit der er fortan sein Leben finanzieren konnte. So beschloss er am 25. Februar 1979, genau ein Jahr nach seinem 25. Geburtstag, diesen ausgiebig im Berliner Club S.O.36 nachzufeiern. Zwei Tage lang gab es eine wilde Party mit Programm und wie immer waren Freunde und die ganze Familie dazu eingeladen. Natürlich kamen sie alle.

Anlässlich dieser Feier entstand Kippenbergers zweites Künstlerbuch. Darin verweigert er sich dem Erzählen. Das Buch, dessen Titel »Vom Eindruck zum Ausdruck« an gereimte Sinnsprüche erinnert, die für viele Menschen eine Form von Sicherheit darstellen, ist leer. Die Seiten müssen vom Leser selbst gestaltet werden. Kippenberger gibt ihm dazu Fotos aus seiner Kindheit an die Hand: Martin als Kaspar, Martin mit Hut, Martin als Hippie, Martin mit Bierflasche und so weiter und so fort. Allein die erste Auflage beklebte der Künstler selbst. Diese Bücher wurden auch von ihm signiert. Später legte er die Fotos nur bei und verzichtete auf die Nummerierung. Ein solches Exemplar besitzt die Bibliothek der Hamburger Kunsthalle. Es erschien im Selbstverlag »Pikasso's Erben«. Der falsch geschriebene Name Pablo Picassos, mit dem sich Kippenberger mehrfach verglich, ist keine Versehen, sondern spielt auf den Beginn des eigenen Namens an. Die ersten drei Buchstaben dieser Schreibweise gleichen sich in gespiegelter Form. »Vom Eindruck zum Ausdruck. ¼ Jahrhundert Kippenberger: Einer von Euch, unter Euch, mit Euch« bildet die Eröffnung zu einer ganzen Reihe von Publikationen mit Selbstdarstellungen.

1981 erschien die Autobiografie »Durch die Pubertät zum Erfolg« – Kippenbergers zehntes Künstlerbuch. Auch hier besteht der Titel aus einem markanten Spruch – typisch für viele seiner Künstlerbücher. Kippenbergers Publikationen stecken voller Anspielungen, Imitationen und Parodien. Er arbeitete mit den Mitteln der Übertreibung, Banalisierung und Verspottung. Alles Formelhafte, alles Regelmäßige war dem Künstler zuwider. Der Inhalt des Buches beschreibt seine Jugendzeit, die mit Briefen des kleinen Martin an seine Eltern beginnt. Zum ersten Mal integriert Kippenberger eigene Lyrik und Prosa. Das Buch enthält unter anderem Teile seines ersten Romans, den er ein Jahr zuvor in Paris begann. Die Publikation ist Bestandsaufnahme und Katalog zugleich. Sie erschien anlässlich Kippenbergers erster Museums-Ausstellung in der Neuen Gesellschaft für bildende Künste in Berlin, die er zusammen mit Werner Büttner gestaltete.

Nach der Pubertät folgt im Leben der »Abschied vom Jugendbonus«. Anlässlich seines 30. Geburtstages erschien die dritte autobiografische Schrift Kippenbergers, die genau diesen Titel trägt, versehen mit dem Zusatz »vom Einfachsten nach Hause«. Der Aufbau des Covers ähnelt den beiden vorherigen. Allein das Format des Buches ist ein größeres. Alle drei Buchumschläge zeigen ein privates Foto neben der Angabe des Titels. Doch bei dieser Publikation ist Martin Kippenberger nicht alleine auf dem Foto abgebildet. Er schreitet mutig aus dem Tor und lässt seine vier Schwestern im Hintergrund zurück. Im Leben des einzigen männlichen Sprosses der Familie haben Frauen immer eine große Rolle gespielt. Der Jugend entronnen, wandte er sich nun anderen Frauen zu. Doch die Nackten werden in dieser Publikation, nackt und erst auf den zweiten Blick erkennbar, Amputationen gegenüber gestellt. Martin Kippenbergers 15. Künstlerbuch ist ein sehr zynisches, das an die Grenzen der bürgerlichen Moral stößt. Martin Kippenberger sagte in einem Interview, das 1991 im österreichischen Magazin »Artfan #5« veröffentlicht wurde, »Jugendbonus, der verfliegt bei dreißig, im Nu.« Und dennoch blieb der Künstler auch immer ein Kind. Zum 40. Geburtstag freute er sich mit leuchtenden Augen über eine Carrera-Bahn. »Die Kindheit hört ja nie auf«, zitierte ihn seine Schwester Susanne. Martin Kippenberger war der wandelnde Widerspruch.

1984 fuhr er zur Kur ins belgische Knokke. Nach seiner Rückkehr beauftragte er Annette Grotkasten (*1960), die Sängerin der Band »Bärchen und die Milchbubis«, ebenfalls für fünf Tage nach Knokke zu fahren und seinen Aufenthalt nach zu erleben. Das Ergebnis liegt in Form eines Buches vor. Die äußere Hülle wirkt seriös. Das kleine Büchlein gleicht einem Band von »Reclams Universalbibliothek«. Layout, Umschlaggestaltung, Druck und Papier – alles ist so wie bei den Produkten des Verlages. Aber bei diesem Band ist nichts so, wie es scheint. Publiziert wurde er von Bärbel Grässlin, einer mit Martin Kippenberger befreundeten Galeristin. Und der Inhalt des Buches stammt auch nicht aus der Feder des Künstlers selbst. Neben einigen Zeichnungen Kippenbergers, einem Nachwort der Kölner Galeristin Sophia Ungers, Tochter des Architekten Oswald M. Ungers, und einer Bibliographie füllen die Notizen der Ghostwriterin die kleine Publikation.

Das wichtigste autobiografische Zeugnis für Kippenberger ist das 1987 erschienene Künstlerbuch »Café Central. Skizze zum Entwurf einer Romanfigur«. Es behandelt die Jahre 1985 bis 1987. In dieser Zeit lebte Kippenberger in Köln im Hotel Chelsea, das er gleichzeitig künstlerisch umgestaltete. Auch bei dieser Publikation knüpft der Künstler an die Sehgewohnheiten von geübten Lesern an. Das Buch ähnelt einem Taschenbuch aus dem DTV-Verlag. Doch alles Bekannte wird schnell auf den Kopf gestellt. Der Inhalt präsentiert sich rückwärts. In umgekehrter chronologischer Folge findet man hier Briefe und tagebuchartige Aufzeichnungen aus Köln, Triest, Teneriffa bis hin zum Kuraufenthalt in Knokke. Wie schon bei anderen Publikationen spielte Kippenberger mit extremen Polen. Einem Minimum an Aufwand setzte er ein Maximum an Inhalt gegenüber. Das Vorwort war nicht neu, wurde bereits in anderen Katalogen veröffentlicht. Die Illustrationen stammten aus dem Nachlass des Vaters der Künstlerfreunde Albert und Markus Oehlen. »Café Central« erschien im Meterverlag, hinter dem sich Kippenbergers Freund Werner Büttner verbirgt. Der Verlagsname steht für die Auflagenhöhe. Es wurden so viele Exemplare produziert, wie Publikationen, Buchrücken an Buchrücken, einen Meter ergaben.

Bei einigen Büchern Kippenbergers handelte es sich um Ausstellungskataloge. Die Ausstellung selbst war vergänglich. Was blieb, war der Katalog, der aus diesem Grund für Martin Kippenberger einen hohen Stellenwert einnahm. Auch bei »Input – Output: Umzüge 1957-1988« handelt es sich um einen Katalog, der anlässlich der Ausstellung »Die Hamburger Hängung. Umzüge 1957–1988. Fallende Flüge« publiziert wurde, die 1989 in der Kölner Galerie Gisela Captain stattfand. Die Publikation enthält Reproduktionen von Zeichnungen auf Hotel-Rechnungen der Jahre 1986–1988. Die Übermalungen zeigen die Grundrisse sämtlicher Räume, in denen Martin Kippenberger seit seinem fünften Lebensjahr gelebt und gearbeitet hat.

Papiere aus Hotels spielten auch in anderen Publikationen eine Rolle. In der Ausstellung »Künstlerbücher. Die Sammlung«, die derzeit im zweiten Obergeschoss der Galerie der Gegenwart zu sehen ist, liegen die Bücher »Hotel – Hotel« aus dem Jahr 1992, »Hotel – Hotel – Hotel« aus dem Jahr 1995 sowie Kippenbergers letztes Künstlerbuch »No drawing no cry«. Der Künstler nutzte in allen drei Publikationen die Briefpapiere von Hotels, in denen er auf seinen zahlreichen Reisen übernachtete. Anhand der Briefköpfe kann man seine Reiserouten nachvollziehen. Auf diese Weise haben die Bände ebenfalls eine autobiografische Note. Der Titel des ersten Bandes stammt von einer amerikanischen TV-Soap. Dem zweiten Band wurde im Titel einfach ein weiteres »Hotel« hinzugefügt. Die Covergestaltung des ersten Bandes wurde beim zweiten umgekehrt. Einem Cover in Orange mit hellblauer Schrift folgte ein hellblaues Cover mit orangefarbener Schrift. Beide Bände verwenden unterschiedliche Papiersorten, um die Briefpapiere der verschiedenen Hotels kenntlich zu machen. Der letzte Band »No drawing no cry« ist eine Fortsetzung der Hotel-Bände und zugleich ganz anders. Schon der Titel bricht mit den beiden vorherigen, spielt auf einen Hit von Bob Marley (1945-1981) an. Kippenberger hatte das Buch noch selbst konzipiert. Die Coverfarbe ist jetzt eine Mischung aus Hellblau und Orange. Der Innenteil sieht aus wie bei den ersten Bänden, doch das Buch enthält nur eine Zeichnung des Künstlers. Die restlichen Hotelbriefpapiere mussten leer bleiben, da Kippenberger am 7. März 1997 verstarb. Vereinzelt haben befreundete Künstler_innen die Papiere gestaltet. Das Buch erschien posthum, drei Jahre nach dem Tod Martin Kippenbergers.

Am 25. Februar dieses Jahres wäre er 65 Jahre alt geworden. Bei wenig anderen Künstler_innen vermischten sich Leben und Werk so unmittelbar in der Kunst. Das spiegelt sich ganz besonders in seinen Künstlerbüchern wider.

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Aus WissensWert 03/2018: Künstlerbücher. Die Sammlung

Dass die Hamburger Kunsthalle eine große Sammlung von Künstlerbüchern besitzt war lange Zeit ein Geheimtipp für Insider. Erst mit der derzeitigen Ausstellung wird sie einem größeren Publikum bekannt. Dabei kann jeder Interessierte die Bücher zu den Zeiten der Graphikvorlage (dienstags, donnerstags und freitags von 14-17 Uhr) im Studiensaal durchblättern.

Die Ausstellung zeigt viele große Namen von den Künstlerbuch-Klassikern der Konzeptkunst bis zu heutigen Beispielen. Sie erstreckt sich über 11 Räume und umfasst das gesamte zweite Obergeschoß der Galerie der Gegenwart. Präsentiert werden können dort aber noch nicht einmal ganz zehn Prozent der gesamten Sammlung. Die Ausstellung kann also nur anregen, sich intensiver mit dieser Kunstgattung zu befassen. Was erwartet die Leser_innen, wenn sie in den Studiensaal kommen, um die Künstlerbücher anzusehen? Welche Bücher verbergen sich noch im Bibliotheksmagazin? Wie wurde die Sammlung aufgebaut?

Cover. In: Künstlerbücher. Die Sammlung. Katalog der Ausstellung Hamburger Kunsthalle 2017-2018. Hamburg 2017. Hamburger Kunsthalle, Bibliothek © Hamburger Kunsthalle.

Gehen wir zurück an die Anfänge. Alles begann vor gut 40 Jahren. Am 2. November 1977 saß die damalige Bibliotheksleiterin Annette Stewner an ihrem Schreibtisch, umgeben von einem Konvolut von 25 Künstlerbüchern, die gerade aus London eingetroffen waren. Das erste Buch, das sie von diesem Konvolut in das Zugangsbuch der Bibliothek eintrug - als 1937. Neuerwerbung des Jahres – ist klein und von fast quadratischer Form. Es hat eine einfache Klebebindung. Von außen ist es rein schwarz. Das Buch ist nicht dick, umfasst 32 Seiten, 15 davon sind unbedruckt, einfach weiß. Auf den anderen Seiten wird jeweils ein Foto einer Palme abgebildet. »A few palmtrees« aus dem Jahr 1971, ein Buch, das von dem amerikanischen Konzeptkünstler Ed Ruscha (*1937) entworfen und gestaltet wurde, ist ein typisches Künstlerbuch der ersten Generation, der Künstler der 1960er Jahre. Wie alle Bücher von Ruscha enthält es das, was der Titel aussagt – nicht mehr und nicht weniger. A few palmtrees.

Bis 1977 waren schon etwa 20 Künstlerbücher sporadisch in die Kunsthalle gekommen, manche sogar im Schriftentausch, den die Bibliothek mit zahlreichen Museumsbibliotheken in der ganzen Welt betreibt. Von 1977 an aber wurde systematisch gekauft. Unterstützt wurde die Bibliothek dabei maßgeblich von Herrn Dr. Leppien (1933-2007), dem damaligen Leiter der Gemäldesammlung, und später auch von Frau Dr. Hohl (*1940), der Leiterin des Kupferstichkabinetts. Man holte zunächst auf, was bisher versäumt wurde, und was damals noch zu erschwinglichen Preisen zu erwerben war – die heutigen Klassiker der 1960er Jahre von Künstlern der Konzeptkunst, von Pop-Art und Fluxus. Gleichzeitig sammelte man zeitgenössisch. Auf diese Weise erfuhr die Sammlung in den folgenden zwei Jahren einen starken Zuwachs von mehr als 80 Büchern. Hatte man in den ersten Jahren vorwiegend Bücher von amerikanischen und englischen Künstler_innen gekauft, so wurden nun auch Werke von französischen, italienischen und deutschen Künstler_innen erworben. Zu ihnen gehören beispielsweise Annette Messager(*1943), Christian Boltanski (*1944), Mario Merz (1925-2003), A. R. Penck (1939-2017) und Jörg Immendorff (1945-2007).

Diese ersten Jahre legten den Grundstein für die Ausrichtung der Sammlung. Aus ihr heraus ist auch die Definition des »Künstlerbuch« zu verstehen, die sich ganz an den von Künstlern gestalteten Büchern seit der Konzeptkunst anlehnt. Diese Künstlerbücher illustrieren nicht einen vorgegebenen Inhalt, sondern das Buch insgesamt wird von den Künstler_innen konzipiert und gestaltet und stellt auf diese Weise das Kunstwerk dar. Die Sammlung der Hamburger Kunsthalle beschränkt sich nicht auf Hamburger Buchkünstler_innen. Sie war von Beginn an international ausgerichtet, orientierte sich vielmehr an der gesamten Sammlung des Museums.

In den 1980er Jahren wurde die Sammlung weiter ausgebaut. Wie in vielen Museen machen Kunstwerke von Künstlerinnen nur einen kleinen Teil aus. Bei den Künstlerbüchern sind es insgesamt nur etwa zehn Prozent, doch gerade zu Beginn der 1980er Jahre werden zahlreiche Künstlerbücher angeschafft, die aus Performances von Künstlerinnen resultieren. Bücher von Ida Applebroog (*1929) und Marina Abramović (*1946) werden in der Ausstellung in der Galerie der Gegenwart gezeigt. Zu diesen Künstlerinnen gehört beispielsweise auch Lili Fischer (*1947), der die Hamburger Kunsthalle im Herbst dieses Jahres eine eigene Ausstellung widmen wird. Ihre Künstlerbücher sind mitunter Drehbücher zu ihren Performances, die jedoch nicht nur den Ablauf der Aktion verschriftlichen, sondern durch Skizzen, Zeichnungen und zusätzliches Material angereichert werden.

In »Kraut & Zauber« aus dem Jahr 1980 liegen getrocknete Blätter zwischen den Heftseiten. Sie sind die stummen Zeugen einer Performance und das Ergebnis einer akribischen Sammlerin. Auf der anderen Seite kommen den Leser_innen beim Betrachten vielleicht auch ganz andere Assoziationen. Wer hat nicht schon einmal selbst Pflanzen in einem Buch getrocknet? Diesen Bezug zum Leser stellt Lili Fischer ganz bewusst her. Ein Teil ihres Künstlerbuches bildet der »Pflanzenblock zum Weitermachen« Er enthält Kopien von Gewächsen, die die Leser_innen zu eigenen Aktivitäten animieren sollen sowie freie Blätter für eigene Notizen.

Das Jahr 1985 verzeichnet den stärksten Zuwachs für die Sammlung Künstlerbücher in der Hamburger Kunsthalle. Erworben wurden insgesamt 120 Künstlerbücher. Fast 20 Prozent des heutigen Gesamtbestandes wurden in diesem und den darauf folgenden zwei Jahren eingearbeitet. Die 1990er Jahre setzten diese Arbeit zunächst fort. 1991 zum Beispiel wurden Francesco Clementes (*1952) kleine Bücher gekauft. Ihr Cover ist ganz bunt gestaltet; kein Wunder, denn der Italiener Clemente reiste seit 1973 häufig nach Indien. Dort lernte er die kleinformatigen Ramakrishna-Bücher kennen, die Texte von Gurus enthalten. Nach ihrem Vorbild veröffentlichte der Künstler Texte von seinen »Gurus«. Bis 1993 entstanden 50 Bücher im eigenen Hanuman-Verlag, mit Werken zeitgenössischer Schriftsteller oder bislang nicht übersetzten Texten von Künstlern, von denen die Sammlung der Kunsthalle neun Exemplare besitzt.

Ab 1994 wurde der jährliche Zuwachs weniger. Die Ankaufspolitik des Museums hatte sich ganz auf eine hochkarätige Ausstattung des Neubaus der Galerie der Gegenwart konzentriert. Die kleinteiligen Künstlerbücher traten in den Hintergrund. Dennoch wurde in geringem Umfang weitergesammelt. Die Bibliothek erhielt Spenden, Geschenke oder weitere Exemplare im Schriftentausch. Anlässlich von Ausstellungen im Haus überließen Künstler_innen der Kunsthalle ihre Künstlerbücher. So gelangten beispielsweise die Bücher von Thomas Rieck (*1951) in die Sammlung. Der Hamburger Künstler hatte 1977 zusammen mit Kollegen das erste Künstlerhaus Deutschlands in der Weidenallee gegründet. Seine Bücher enthalten Texte, fotokopierte Zeichnungen, übermalte und eingeklebte Fotografien. Die seltenen farbigen Seiten stechen aus den Schwarz-Weiß-Kopien hervor. Der Bestand von sieben Künstlerbüchern von Thomas Rieck konnte im vergangenen Jahr dank einer großzügigen Spende um seine aktuelle Publikation ergänzt werden.

Das zeigt, dass die Bibliothek ihre Sammlung fortsetzt und die vorhandene Kollektion durch fehlende Stücke retrospektiv ergänzt sowie durch aktuelle Exemplare erweitert. Das muss sich nicht immer an der Sammlung des Museums orientieren, wenngleich dieser Bezugspunkt als ein wichtiger bestehen bleibt. Im 21. Jahrhundert jedoch hat sich der Künstlerbuch-Markt kräftig gewandelt. Man kann derzeit von einem Boom sprechen. Es gibt inzwischen zahlreiche Künstler_innen, die sich ganz auf diese Kunstgattung spezialisiert haben. Man findet potentielle Neuerwerbungen auf Messen, in den Ausbildungsstätten oder bei den Fachverlagen, die es mittlerweile gibt. Die Ausstellung »Künstlerbücher. Die Sammlung« hat nicht nur viele Menschen animiert, sich mit Künstlerbüchern auseinander zu setzen, sondern ebenso Verlage, Künstler_innen, Expert_innen und Interessierte ermuntert, Ergänzungen zu spenden. So gelangten seit dem vergangenen Herbst mehr als 200 neue Künstlerbücher in die Bibliothek der Hamburger Kunsthalle. Hierbei handelt es sich u.a. um Publikationen von Roni Horn (*1965), Stefan Marx (*1979), Thorsten Brinkmann (*1971), Erik van der Weijde (*1977), Gesa Lange (*1972), Almut Hilf (*1980), aus dem Materialverlag und dem Salon-Verlag.

Die aktuell von jungen Künstler_innen erworbenen Werke führen das bisherige anspruchsvolle Profil fort. Blickt man insgesamt auf die Sammlung von Künstlerbüchern in der Bibliothek der Hamburger Kunsthalle, so kann man sie zu den besten zehn in deutschen Bibliotheken oder Museen zählen.

Wer mehr lesen möchte: Künstlerbücher. Die Sammlung. Katalog der Ausstellung Hamburg 2017/2018. Hamburg 2017

Aus WissensWert 03/2018: Bücher über Künstlerbücher

Fragt man die Expert_innen nach einer allgemein gültigen Definition für den Begriff »Künstlerbuch«, so werden viele unterschiedliche Ansätze je nach Sammlung oder Forschungsschwerpunkt deutlich. Die Sammlung der Hamburger Kunsthalle setzt bei den Künstlerbüchern der 1960er Jahre an, die aus der Konzeptkunst heraus entstanden. Sie zeigen einen neuen Umgang der Künstler_innen mit dem Medium des Buches. Das Buch wurde zum Kunstwerk.

1970 hatte der italienische Kunsthistoriker Germano Celant (*1940) einen Aufsatz geschrieben, in dem er erstmals versuchte, eine Definition für das Phänomen des Künstlerbuches zu finden. Für ihn spielt die Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Buch als Massenmedium eine wesentliche Rolle. Celant beschreibt ebenso die Rolle des Betrachters als einen aktiven Part bei der Entstehung des Kunstwerks. Die Kunst wird erst in der zeitlichen Abfolge des Lesens wahrgenommen. Ein Künstlerbuch muss nicht zwingend ästhetisch sein. Germano Celant zieht in seinem Text die Verbindung zur Konzeptkunst, denn er sieht das Künstlerbuch als Medium zur konzeptionellen Ideenvermittlung mittels Foto- und Textdokumentation. Es ist für ihn eine Sammlung von Texten, Arbeitsnotizen, Philosophie oder Statements. Darüberhinaus behandelt Celant auch ausführlich die neuen technischen Möglichkeiten.

1972 kuratierte Germano Celant eine erste Ausstellung mit Künstlerbüchern. »Book as artwork 1960/1972« hieß auch der Katalog, in dem ca. 300 Exponate von ihm und Lynda Morris vorgestellt werden. Man kann diesen Katalog also eine erste Bibliographie zum Thema nennen. Celant arbeitete weiter und veröffentlichte 1974 eine erweiterte Auflistung in der Zeitschrift »Interfunktionen«. Diese fast 25 Seiten umfassende Bibliographie verzeichnet bis heute die wichtigsten Künstlerbücher der ersten Generation. Celant beschreibt »das Buch als Kunstwerk«. Der Begriff »Künstlerbuch« taucht in dieser Form bei ihm noch nicht auf.

Erst ein Jahr später, im Jahr 1973, erschien ein Ausstellungskatalog mit dem Titel »Artists Books«. Herausgeberin war die amerikanische Kunsthistorikerin Dianne Perry Vanderlip, die auch die Ausstellung am Moore College of Art & Design in Philadelphia, PA und am Art Museum in Berkeley, CA organisierte.

Die vielleicht berühmteste und mit Sicherheit weiteste Definition des Begriffs »Künstlerbuch« stammt von der Kunsthistorikerin Lucy Lippard (*1937). Sie hat sich vielfach mit der Kunst des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt, schrieb Artikel für die Fachzeitschriften »Art International« und »Artforum«. Zudem ist sie Mitbegründerin der Organisation Printed Matter, die sich ganz den Künstlerbüchern verschrieben hat, als Verlag und Shop arbeitet und Messen in den USA organisiert. 1973 erschien Lippards Buch »Six years: The dematerialization of the art object from 1966 to 1972. A cross-reference book of information on some esthetic boundaries«. Der Titel geht auf einen gleichnamigen Artikel zurück, den sie 1968 zusammen mit John Chandler in »Art International« herausgab. Es ist eine chronologische Beschreibung von Kunstwerken, inkl. Künstlerbüchern. Zudem sind Zeitschriftenartikel und Interviews von Künstler_innen über Kunst aufgeführt. Das Buch zeigt auch, wie verzahnt und verknüpft die einzelnen Kunstrichtungen waren. Die Künstler_innen bildeten ein Netzwerk. Lippards Definition eines Künstlerbuches ist ganz einfach: »It is an artist's book if an artist made it or if an artist says it is.«

1977 hatte die theoretische Auseinandersetzung um die Kunstgattung Künstlerbuch Deutschland erreicht. Rolf Dittmar (-1999) konzipierte den gleichnamigen Bereich auf der documenta 6 in Kassel. Im dritten Band des documenta-Katalogs beschreibt er seinen dokumentarischen Ansatz um die »neue Buchkunstbewegung«. Dabei unterschied er zwischen dem illustrierten, dem bibliophilen Buch und dem Künstlerbuch. Für ihn wird das Buch als Instrument der Vermittlung von Sachinformationen durch die Künstler_innen in Frage gestellt. Das Buch ist nicht mehr alleine ein Medium zur Verbreitung von Informationen. Sein ästhetischer Wert wird zur Eigeninformation. Das Buch wird zum Kunstwerk.

Dittmars Ansatz ist ein vielfältiger. Im Mittelpunkt stehen für ihn nicht Kunstrichtungen und –stile, sondern die Abkehr von der herkömmlichen Funktion des Buches. Mit Hilfe des Buches können Künstler_innen in ein visuelles Gespräch mit den Leser_innen treten und somit Fragen an die Gesellschaft stellen. Künstlerbücher können dies auf spielerische, poetische, plakative Art und Weise tun.

Die ersten Bücher über Künstlerbücher versuchen die neue Kunstgattung zu benennen, beim Schopfe zu packen und in Worte zu fassen. Dabei zeigt sich schnell, wie schwierig dies ob der großen Kreativität ist, mit der die Künstler_innen an das Medium herangehen. Alle Texte vereint die Erhebung des Künstlerbuches zu einem autonomen Kunstwerk sowie die Beschreibung der Rolle der Leser_innen als Akteur_innen.

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